Rezension über:

Rudolf Leeb / Martin Scheutz / Dietmar Weikl (Hgg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert) (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 51), Wien: Böhlau 2009, 528 S., ISBN 978-3-205-78301-5, EUR 55,00
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Rezension von:
Ulrich Niggemann
Seminar für Neuere Geschichte, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Niggemann: Rezension von: Rudolf Leeb / Martin Scheutz / Dietmar Weikl (Hgg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert), Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/15576.html


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Rudolf Leeb / Martin Scheutz / Dietmar Weikl (Hgg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert)

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In den letzten Jahren ist ein wiedererstarkendes Interesse an der Thematik des Geheim- oder Kryptoprotestantismus in den Ländern der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg zu beobachten. Die Ergebnisse dieser neueren Forschungen in einem Handbuch zusammenzufassen, war die ursprüngliche Absicht der Herausgeber des vorliegenden Werkes, die jedoch zugunsten eines deutlicher als Sammlung aktueller Forschungsbeiträge akzentuierten Bandes modifiziert wurde. Der Handbuchcharakter ist dennoch in weiten Zügen erhalten geblieben.

Nach einer die aktuelle Forschungslage skizzierenden und neue Perspektiven aufzeigenden Einleitung der Herausgeber folgen zwei weitere einführende Beiträge zum administrativen und rechtlichen Umgang mit dem Geheimprotestantismus in Österreich. Sodann werden in neun Länderüberblicken die Teilgebiete der Habsburgermonarchie (mit Ungarn, Böhmen und Schlesien) sowie das Fürstbistum Salzburg vorgestellt. Ohne einer einheitlichen Konzeption zu folgen, beschränken sich die meisten dieser Beiträge im Wesentlichen auf eine Darstellung der konfessionspolitischen und -rechtlichen Entwicklung, also auf die Reformation im 16. Jahrhundert und die in den Ländern unterschiedlich verlaufene Rekatholisierung bis zum Toleranzpatent Josephs II. im Jahr 1782. In unterschiedlichem Maße versuchen die Autor/inn/en freilich auch, Einblicke in das Innenleben der protestantischen Gemeinden, Gruppen oder Zirkel zu gewinnen und stärker Alltag und Glaubenspraxis in den Blick zu nehmen (besonders Astrid von Schlachta, Alexander Schunka). Schließlich folgen sieben Beiträge, die sich dem Gegenstand thematisch annähern, indem sie Transmigrationen, Emigrationen, Volksmission, Glaubenswechsel, religiöses Leben sowie Außenwahrnehmungen des Geheimprotestantismus untersuchen. Es liegt wohl in der Natur dieser Konzeption, dass es dabei verschiedentlich zu Wiederholungen kommt, zumal die Beiträge offenbar nicht gezielt aufeinander abgestimmt wurden.

Was ist nun der Ertrag eines solchen Sammelwerks? Zunächst einmal scheint es angesichts des derzeitigen Forschungsstandes, der sich auch durch neue Fragehorizonte und innovative methodische Ansätze auszeichnet und von der älteren - oftmals national und konfessionell gefärbten, apologetischen - Literatur absetzt, durchaus sinnvoll, die bisherigen Ergebnisse zusammenzuführen. Das gelingt insgesamt sehr gut, auch wenn nicht alle von den Herausgebern einleitend aufgezeigten Anregungen in den Beiträgen umgesetzt werden konnten. So mangelt es auch in diesem Band an der Einlösung komparatistischer Perspektiven. Hier eröffnet sich zweifellos für die weitere Forschung ein Feld mit großem Erkenntnispotenzial, zumal - wie Ute Küppers-Braun in ihrem Beitrag hervorhebt - die Quellenlage bei weitem nicht so schlecht ist, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Vielmehr liegen allein für den Geheimprotestantismus in Österreich zahllose Verhörprotokolle, Suppliken, Denunziationen, Visitationsberichte und andere Quellen in nahezu allen größeren österreichischen Archiven vor. Auch die nach 1782 eingerichteten Toleranzgemeinden können, wie Andreas Hochmeir zeigt, durchaus als Indikatoren für die internen Strukturen von Untergrundkirchen herangezogen werden, wurden doch in diesen nun legalen Gemeinden zahlreiche früher entwickelte Praktiken beibehalten.

Vielversprechend ist sicher auch der von Martin Scheutz vorgestellte Ansatz einer Konfessionalisierung von unten, die den Blick auf die gemeindeübergreifende protestantische Identitätsbildung und Kohärenzstiftung in Bezug auf die Glaubensinhalte richtet und somit eine wichtige Modifizierung und Ergänzung des etatistischen Konfessionalisierungsparadigmas darstellt. Gerade der verbotenen und vielfach auf geheimen Wegen ins Land geschmuggelten lutherischen Erbauungsliteratur wie auch dem erstaunlich hohen Maß an Vernetzung mit anderen Gemeinden kam hier sicher eine wesentliche Bedeutung zu (Christine Tropper, Alexander Schunka, Dietmar Weikl).

Nur angerissen wird in dem vorliegenden Band die geschlechtergeschichtliche Perspektive, die interessante Ergebnisse verspricht. Hier wird nur auf die Beobachtung hingewiesen, dass sich Männer angesichts behördlicher Repressionen vielfach bereit erklärten, den katholischen Glauben anzunehmen, während Frauen beim Protestantismus verblieben und das lutherische Erbe weiterführten (Christine Tropper). Damit ist auch generell das Problem des Glaubenswechsels angesprochen, mit dem sich Martin Scheutz in einem seiner fünf Beiträge befasst. Er sieht in der Konversion und der sie bedingenden individuellen Gewissensentscheidung geradezu eine "Signatur der modernen Welt". Zudem rücke in der Betrachtung des Glaubenswechsels auch die "pragmatische Dimension von Konfession in der konkreten Lebenswelt" in den Blickpunkt (454).

Zu den Erkenntnissen der neueren Forschung, wie sie sich im vorliegenden Sammelband darstellt, gehört zweifellos die die Bezeichnung "Geheimprotestantismus" als solche infrage stellende Bekanntheit des Phänomens bei den zuständigen Behörden. Innerhalb der Dorfgemeinschaften kann mit Blick auf den Protestantismus wohl sogar von einem "offenen Geheimnis" gesprochen werden, das jedoch in der Regel eine friedliche Koexistenz nicht beeinträchtigte. Selbst die Ortsgeistlichen waren vielfach mit dem Problem vertraut, waren aber bereit, dieses hinzunehmen, solange der äußere Schein des Monokonfessionalismus gewahrt blieb. Es waren oftmals die Missionsprediger und Reformationskommissionen, die von außerhalb in die Gemeinden kamen, den Anpassungsdruck beträchtlich erhöhten und dadurch dieses "gentlemen's agreement" (74) zerstörten (Astrid von Schlachta). Erst im Zuge solcher Interventionen kam es häufiger zu Bekenntnisbewegungen, die dann Ausweisungen, Emigrationen und Deportationen nach Siebenbürgen (der Begriff "Transmigrationen" wird von Stephan Steiner zurecht als Euphemismus charakterisiert) unter Karl VI., Maria Theresia und sogar noch unter Joseph II. zur Folge hatten (Astrid von Schlachta, Christine Tropper, Stephan Steiner).

Zu den interessantesten Aspekten der Thematik gehört zweifellos die Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschichte. Elisabeth Garms-Cornides kann zeigen, wie sehr in Rom die Salzburger Vorgänge von 1731/32, aber auch die immer wieder bekannt gewordenen Fälle von Kryptoprotestantismus in den habsburgischen Erblanden von den jeweiligen Interessenkonstellationen zwischen der Kurie, dem Kaiser oder dem Erzbischof von Salzburg abhängig waren. Zugleich dominierte im Vatikan eine unrealistische und von Unkenntnis der Reichsverfassung geprägte Erwartungshaltung bezüglich des Protestantismus im Reich. Rudolf Leeb wendet sich schließlich im Schlussbeitrag der Wahrnehmung und Darstellung des Geheimprotestantismus und der Emigration innerhalb des deutschen Luthertums zu. Der Pietismus und die Betonung einer verinnerlichten Frömmigkeit spielten hier ebenso eine Rolle wie die Forderung nach offenem Bekenntnis. Der österreichische Kryptoprotestantismus wurde so zu einer Projektionsfläche, die die Strömungen und Tendenzen des deutschen Protestantismus widerspiegelte.

Insgesamt bietet der vorliegende Sammelband zwar viel Bekanntes, insbesondere im Hinblick auf die in einigen Beiträgen zu sehr im Vordergrund stehende staatliche Rekatholisierungspolitik, doch finden sich auch viele neue Einsichten und - fast noch wichtiger - Anregungen und Perspektiven für die weitere Forschung.

Ulrich Niggemann