Rezension über:

Heinz Kramer / Maurus Reinkowski: Die Türkei und Europa. Eine wechselhafte Beziehungsgeschichte, Stuttgart: W. Kohlhammer 2008, 213 S., ISBN 978-3-17-018474-9, EUR 26,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dorothee Guillemarre
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Dorothee Guillemarre: Rezension von: Heinz Kramer / Maurus Reinkowski: Die Türkei und Europa. Eine wechselhafte Beziehungsgeschichte, Stuttgart: W. Kohlhammer 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/14961.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Heinz Kramer / Maurus Reinkowski: Die Türkei und Europa

Textgröße: A A A

Bekanntlich erregt die Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union immer wieder die Gemüter. Umso mehr wird eine nüchterne Problematisierung dieser höchst komplizierten Frage gebraucht. Diesem Buch ist das zweifellos gelungen, indem es Relativierung und Flexibilität des Denkens bei dem Leser anregt.

Der erste Teil - "Das osmanische Reich und Europa", der aus sechs Kapiteln besteht - wurde von dem Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski geschrieben. Hier werden zunächst die als Selbstverständlichkeiten angenommenen Gegenüberstellungen von Begriffen wie "Christentum - Europa - Okzident" und "Islam - Türkei - Orient" in Frage gestellt. Auf die Schwierigkeit zurückkommend, Europa selbst zu definieren, zeigt der Autor, dass die Geschichte der Beziehungen "nicht allein als eine direkte (...) geschrieben werden darf, sondern dass sie in einen weiten Zusammenhang einzubetten" ist, nämlich den des Mittelmeeres, des Balkans, des Lebens der jüdischen und christlichen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich. Zwei Zeitabschnitte sind zu unterscheiden: nach der osmanischen Expansion in der Mittelmeerwelt und nach Südosteuropa fand das Zeitalter der europäischen Expansion ab dem 18. Jahrhundert statt. Die "Türkenfurcht", die anfänglich noch gar nicht bestand - in der Zeit der Kreuzzüge wurden die Türken gelegentlich als Verbündete gegen Byzanz betrachtet - entwickelte sich erst allmählich angesichts der militärischen Erfolge der Osmanen. Sie diente dazu, die christliche Bevölkerung gegen einen gemeinsamen Feind zu bewegen. So entstand die Vorstellung von Europa als Sitz einer geeinten Christenheit. Südosteuropa wurde durch die osmanische Anwesenheit entschieden geprägt, so dass man sagen kann, dass der Balkan ein Erbe der Osmanen ist.

"Nähe und Fremdheit" (Kapitel 3) bestimmten das osmanisch-europäische Verhältnis. Neben der religiös-ideologischen Konfrontation gab es auch "ein funktionierendes Nebeneinander" und ein "Miteinander" in Form von politischen Bündnissen. Im osmanischen Reich selber stellten bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg christliche und jüdische Einwohner die Mehrheit der Bevölkerung dar. Der religiöse Pragmatismus der Osmanen, betont der Autor, "soll aber nicht als Toleranz im heutigen Sinne verstanden werden, sondern eher als das Nebeneinanderleben in einer hierarchischen Ordnung (...)". Sehr anregend sind die Analysen des Autors bezüglich des Synkretismus, der im Islam in Südosteuropa bestand. Im 4. Kapitel behandelt Reinkowski die Beziehungen ab dem 18. Jahrhundert, als die Verhältnisse sich gewaltig ändern und das Überlegenheitsgefühl Europas sich durchsetzt. Zu dieser Zeit wird das osmanische Reich zu einer "Art Eckstein im internationalen Mächtegleichgewicht" - das ist die "orientalische Frage", in der das osmanische Reich, das einerseits als gleichberechtigtes Mitglied bezeichnet wird und andererseits zu einem als minderwertig geltenden Staat herabgesunken ist, in eine zwiespältige Lage versetzt wird, die bis heute "traumatische Wirkungen entfaltet hat". Anschließend behandelt der Autor das zunehmende Engagement Deutschlands im osmanischen Reich am Ende des 19. Jahrhunderts, das bekanntlich durch die Bagdadbahn und die Militärmissionen konkretisiert wurde, sowie die Ereignisse vor und während des Ersten Weltkrieges.

In der heiklen Frage der Armeniermassaker stellt der Autor die Zweideutigkeit der "Mächte", deren "moralischer Impuls mit Imperialismus verwässert" wurde, und den "Opfermythos" der Türkei, der einen Grundstein ihrer nationalen Identität bildet, gegenüber. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa - so der Schluss des Autors - wird sowohl durch den gleichzeitigen nationalen Opfer- und Heldenmythos der Türkei als auch durch die in Mitteleuropa andauernden Bilder einer Türkenfurcht belastet.

Der zweite Teil - Die türkische Republik und Europa (Fünf Kapitel) - stammt von dem Politikanalysten Heinz Kramer, der zuerst die Kontinuität zwischen den Jungtürken und den Kemalisten und ihre aus Nationalismus, Rationalismus und Positivismus bestehende Ideologie hervorhebt. Die Reformen, die von der kemalistischen Elite "von oben" eingeführt wurden, hatten keine fundamentale soziale Umwälzung zur Folge. Die Analyse des Kemalismus durch die "sechs Pfeile" (Republikanismus, Populismus, Etatismus, Revolutionismus, Nationalismus, Säkularismus) zeigt insbesondere deutlich, wie die Kemalisten es verstanden, die Vorstellung eines als eine einheitliche soziale Gemeinschaft ohne Klassen-, Rassen- oder Religionsunterschiede verstandenen Volkes durchzusetzen, dessen Einheit tatsächlich jedoch auf einer türkisch-sunnitischen Grundlage beruhte. Eine besondere Aufmerksamkeit schenkt Kramer den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei im 20. Jahrhundert, die - so der Autor - weniger durch ihren Inhalt als ihren Umfang gekennzeichnet waren. [1] Hier wird auf die Wichtigkeit der Wirtschaftsbeziehungen hingewiesen sowie auf diejenige der Verteidigungshilfe. Die deutsche Gelehrtenmigration ab 1933 stellte ein besonderes Kapitel der Beziehungen dar, wenn es auch lange Zeit in Vergessenheit geriet.

Bezüglich der Arbeitsmigration betont der Autor, dass sie heute nicht mehr als Auswanderung im klassischen Sinn zu verstehen ist. Aus ihr ist eine Zwischenwelt entstanden, die leider wenig Anklang in den deutschen und türkischen Medien findet. Anschließend zeigt Kramer, wie abhängig von den internationalen Zusammenhängen der Beitritt der Türkei zu der EWG / EG / EU war und ist. Bis in die Mitte der 1960er Jahre galt eigentlich für die Türkei nicht Europa als der Westen sondern die USA, die aus ihr den "Südostpfeiler der NATO" machten. 1963 wurde dann ein Assoziationsabkommen mit der EWG unterschrieben. Zu dieser Zeit wurde die Türkei als Teil Europas betrachtet. Jedoch wurde damals "die Europäische Identität in Abgrenzung zum 'kommunistischen Machtbereich', nicht aber primär in der Abgrenzung zur 'islamischen Welt' definiert". Das lange Hinziehen der Verhandlungen hat mit der Unklarheit unter den Mitgliedern der EU sowie mit den inneren wirtschaftlichen und politischen Krisen in der Türkei zu tun. Das Problem um Zypern erschwerte die Verhandlungen bis heute. 1989 brachte keinen Vorteil für die Türkei, die in der Osterweiterung Europas nicht einbezogen wurde. Zu dieser Zeit wuchs auch die Skepsis über das "Europäertum" der Türken. Die 1995 erreichte Vollendung der Zollunion stellte ein wichtiger Schritt dar, der für Ankara als letzter Schritt vor dem Beitritt betrachtet wurde.

In seinem letzten Kapitel kommt Kramer auf die neuesten Etappen zurück. Nach dem Wahlsieg der AKP im November 2002 wurden wichtige Reformen verabschiedet, so dass 2004 der Beginn von Verhandlungen beschlossen wurde. Jedoch wurde eine "Reihe weiter führender Überlegungen und Bedingungen, die in dieser Form so noch nie mit Blick auf Beitrittsverhandlungen formuliert worden waren" aufgeworfen, was zeigt, dass es heute bei den Politikern eher um die Frage geht, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehört.

Zum Schluss heben die beiden Autoren hervor, dass der kulturelle Unterschied, der immer wieder unterstrichen wird, kein "gottgegebenes Schicksal" ist. Vielmehr erinnern sie daran, dass diese Frage eine politische ist, für die die Geschichte nicht "in Haft" genommen werden sollte. Man sollte sich auf beiden Seiten den Konflikten und Vorstellungskomplexen wie den "Türkenkriegen" der Mitteleuropäer, dem "türkischen Joch" der Südosteuropäer und dem "nationalen Unabhängigkeitskampf" der Türkei bewusst sein, um diese Frage endlich sachlich zu behandeln.


Anmerkung:

[1] Wenn auch die Beziehungen in der Zwischenkriegszeit ideologische und politische Besonderheiten zeigen. Siehe Dorothée Guillemarre-Acet: Impérialisme et nationalisme. L'Allemagne, l'Empire ottoman et la Turquie (1908-1933), Würzburg 2009.

Dorothee Guillemarre