Rezension über:

Petra Fuchs / Maike Rotzoll / Ulrich Müller u.a. (Hgg.): "Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst". Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen 'Euthanasie', Göttingen: Wallstein 2007, 387 S., ISBN 978-3-8353-0146-7, EUR 29,90
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Ernst Berger (Hg.): Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung, Wien: Böhlau 2007, 458 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77511-9, EUR 39,00
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Rezension von:
Annette Eberle
Dachau
Empfohlene Zitierweise:
Annette Eberle: Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen 'Euthanasie' (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/13643.html


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Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen 'Euthanasie'

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Die beiden Publikationen geben wichtige Einblicke in den Stand der interdisziplinären Bearbeitung des Themas. Dabei werden die maßgeblichen Mechanismen durch eine vergleichende Darstellung von Opfer-, (Mit-)Täter- und Fach - bzw. Systemperspektive herausgearbeitet und in den zeithistorischen Kontext der Vor- und Nachkriegsgeschichte eingebettet. Zudem verrät bei beiden Publikationen bereits der Titel, dass sich die Autoren, in der Mehrheit Medizinhistoriker und Psychiater, mit ihrer Forschungsarbeit einer gesellschaftlichen Gedenkkultur verpflichtet fühlen. Ihnen lag daran, die sowohl in Deutschland als auch in Österreich "randständige und stigmatisierte Position der psychisch kranken und behinderten Menschen" (Das Vergessen, 15) als Verfolgtengruppe der NS-Verbrechen zu durchbrechen. Dies gelingt beiden Publikationen in unterschiedlicher Weise: In den Lebensgeschichten des Bandes von Fuchs et al. wird die Verschränkung von Lebenssituationen und Krankheit der Betroffenen deutlich, die sie in die abgetrennte Welt der Anstaltspsychiatrie führte und von dort schließlich in den gewaltsamen Tod. Wie sehr dies auch Kinder und Jugendliche betraf, die unter dem Verdacht der "Asozialität" zu Opfern einer im Nationalsozialismus praktizierten Fürsorge und Psychiatrie des "Ausmerzens" wurden, belegt der Band "Verfolgte Kindheit".

Die Anonymisierung der Euthanasieopfer aufzubrechen, die nicht nur Folge sondern Bestandteil der "Vernichtung selbst" war, lag wohl der Entscheidung des Autorenteams um Fuchs et al. zugrunde, erste Ergebnisse ihres langjährigen Forschungsprojektes zur Auswertung der (nur noch) 300 überlieferten Karteikarten der T4-Aktion in Form einer biografischen Annäherung zu veröffentlichen. Damit gelang es ihnen, nicht nur eine breitere Leserschaft zu erreichen (die zweite Auflage ist bereits auf dem Markt), sondern auch publizistisch Neuland zu betreten. Ein wissenschaftlich-analytischer Band soll in Kürze folgen. Mit den 23 erzählten Lebensgeschichten (99-336), die bis in die Psychiatrie des Kaiserreichs reichen, haben die Autoren einen Perspektivwechsel auf der Basis der Krankenakten und damit der Täterüberlieferung versucht.

Die auffällige Differenz in der Entscheidung über die Erzählzeit - Präsens oder Vergangenheit - ist ein Indiz, das dem Leser verrät, wie bewusst sich die Autoren dabei mit der Problematik der eigenen Perspektive auseinandersetzten, die eine gespaltene ist: Die des einfühlenden und die des quellenkritisch distanzierten Forschers. Die Lebensgeschichten werden gerade dann nachvollziehbar, wenn es den Autoren gelingt, den selbst gewählten Anspruch, "die Patientinnen und Patienten [nicht] in einer simplifizierenden Opfer-Täter-Dichotomie zu zeigen" (19), anschaulich zu unterfüttern und Widersprüche zuzulassen. Hier seien nur zwei Beispiele hervorgehoben: Friedrich L. (geboren 1896), "Ich teile dem Amtsgericht Leipzig mit, dass ich nicht Irrsinnig bin" (191-200), hatte die Kindheit in Armut im Gegensatz zu fünf seiner Geschwister überlebt. Sein weiterer Lebensweg gleicht einer "Verlegungskette" zwischen Fürsorgeerziehungsanstalt, Arbeitshaus und Psychiatrie. Im Jahr 1932 versuchte er mit der freiwilligen Kastration - er war u.a. wegen sexuellen Missbrauchs mehrfach vorbestraft - aus diesem Prozess von Kriminalität, Krankheit und Desintegration herauszufinden. Vergebens, bis zu seiner Ermordung im Februar 1941 wurde er noch in vier weitere Anstalten verlegt. Die Ablehnung seines letzten Entlassungsgesuchs wurde im Jahr 1939 mit angeblich mangelnder Arbeitsfähigkeit begründet. Auch die Geschichte von Therese W., "Zwischen den Welten" (308-336), handelt von vielen vergeblichen Versuchen des "Gesundwerdens". Sie kommt als Fabrikantentochter und Ehefrau eines angesehenen Professors aus einer gänzlich anderen sozialen Realität. Ihre Lebensgeschichte verläuft "im Spannungsfeld von Emanzipation und Unterwerfung unter die zeitgenössischen Rollenerwartungen an Frauen." Sie wurde zum ersten Mal im Jahr 1924 nach einem angekündigten Ausbruchsversuch aus ihrer Ehe auf Betreiben ihres Mannes in die Psychiatrische Klinik Leipzig eingewiesen. Bis zum Jahr 1935 wurde sie ambulant von einem jüdischen Psychiater behandelt. Nach dessen Berufsverbot und Emigration erfolgte ihre erneute stationäre Einweisung. Der Tonfall der Ärzte und die Diagnose in ihrer Krankenakte veränderten sich immer mehr zu ihren Ungunsten. Sechs Jahre später, nach vielen auch von der Familie abgelehnten Entlassungsgesuchen, wurde sie im Februar 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt "Pirna Sonnenstein" ermordet.

Die Unterschiede in den Erzählweisen der Lebensgeschichten, wie Länge, Ausführlichkeit von Personen- und Krankengeschichte, Einbezug von Selbstaussagen der Opfer etc., basieren vor allem auf der Zufälligkeit der Überlieferung. Kaum eine der Krankenakten, die "im Idealfall" aus Personalakte und Krankengeschichte bestehen sollten, ist lückenlos erhalten. Zudem unterlag die Aktenführung sehr unterschiedlichen Konventionen innerhalb der einzelnen Anstalten. Doch, je näher die Überlieferung dem Todesdatum kommt, desto karger, anonymer und aussageloser gestalteten sich die Einträge. Oft gelang es den Autoren, zusätzliche Dokumente in Archiven oder durch Kontakte zu den Familien zu erschließen. Eine Geschichte fällt dabei aus dem rekonstruktiven Erzählmuster heraus: Das Porträt eines Sohnes über den Vater, das sich auf überlieferte persönliche Aufzeichnungen stützen konnte und der Familie nun die Erinnerung an den Ermordeten ermöglicht (105-122).

Der historische und methodische Rahmen wird in fünf einführenden Beiträgen abgesteckt. Maike Rotzoll skizziert die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert (24-35) und stellt diese in den Zusammenhang mit der Programmatik von "Heilen und Vernichten" der NS-Psychiatrie. Unmittelbar daran knüpft Gerrit Hohendorf mit seinem Beitrag "Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen 'Euthanasie' im Überblick" an (36-52). Sehr prägnant und auch für eine mit dem Fachdiskurs nicht vertraute Leserschaft verständlich zeichnet er das Zusammentreffen von "Rassenhygiene und Euthanasie" nach und gibt einen Überblick über die einzelnen Mordaktionen, die unter den Verbrechen der "NS-Euthanasie" subsumiert werden. Petra Fuchs liefert mit ihrer kollektivbiografisch angelegten Studie über die Gruppe der Opfer der "Euthanasie" (53-72) den notwendigen Hintergrund, um die einzelnen Lebensgeschichten hinsichtlich sozialer Lebensrealität, medizinisch-psychiatrischer Diagnostik und der für die Mordselektion entscheidenden Kriterien aufeinander beziehen bzw. miteinander vergleichen zu können. Notwendige methoden- und quellenkritische Hinweise finden sich in den Beiträgen von Paul Richter über "das Spannungsfeld zwischen Einzelfall und Statistik" (73-79) und von Ulrich Müller zu "Krankenakten als Quelle" (80-98).

Das in vielen der Lebensgeschichten offensichtlich gewordene Zusammenwirken von Psychiatrie, Fürsorge und auch Polizei war eine Folge der Modernisierung der Sozialverwaltungen ab den Zwanzigerjahren. Wie diese dann in den Dienst der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik genommen wurde und welche Folgen bis heute zu konstatieren sind, untersucht der Band "Verfolgte Kindheit". Der Schwerpunkt liegt auf den Fürsorgeinstitutionen in Wien. Das interdisziplinäre Konzept wird in der Aufteilung der Studie in vier Hauptabschnitte deutlich. In Teil eins geht es um die "Geschichte der Jugendfürsorge", um den sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Rahmen und um den wachsenden Einfluss psychiatrischer Instrumentarien in der pädagogischen Diagnostik. Dieser wird in dem Beitrag von Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka "Zur Geschichte der Intelligenzmessung im Wiener Fürsorgesystem vor und in der NS-Zeit" unter der Fragestellung "Kontinuität oder Bruch?" skizziert (15-40). Der zweite Abschnitt widmet sich der "Kindererziehung im Nationalsozialismus" (91-138) und wird mit vier Beiträgen des Historikers Peter Malina bestritten. Hier geht es um den spezifischen Charakter einer "nationalsozialistischen Erziehung" mit seinen autoritären Zügen und der ihm innewohnenden Notwendigkeit der "Aussonderung" sowohl in der Familie als auch in den staatlichen Erziehungsinstitutionen. Im dritten Hauptabschnitt, der mit zehn Beiträgen auch der zentrale des Bandes ist, stehen die einzelnen "Institutionen der NS-Fürsorge" (139-334) und ihre Vorgeschichte in den Dreißigerjahren im Mittelpunkt der Betrachtungen. Einführend gibt Vera Janrits einen Überblick "Zur Struktur des Fürsorgewesens im NS-Wien". Peter Malina stellt in zwei Beiträgen den "Spiegelgrund", die bekannteste Wiener Anstalt, vor, wobei vor allem Repression und Terror in der Psychiatrie und in der Fürsorgeerziehung von 1939 bis 1945 thematisiert werden. Gegründet als psychiatrische Reformanstalt wurde die Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" nach 1938 zum Zentrum der nationalsozialistischen Tötungsmedizin, die mindestens 7.500 Patientinnen und Patienten das Leben kosten sollte. Von 1940 bis 1945 existierte auf dem Anstaltsgelände unter der Bezeichnung "Am Spiegelgrund" eine sogenannte "Kinderfachabteilung", in der rund 800 kranke oder behinderte Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Nicht wenige von ihnen wurden von der gleichnamigen städtischen Jugendfürsorgeerziehungsanstalt überstellt, die sich ebenfalls auf dem Gelände befand. Heute vielfach noch unbekannt ist, dass innerhalb des Anstaltskomplexes auch ein "Arbeitserziehungslager" für Frauen untergebracht war. Die Einweisung erfolgte unter Mitarbeit der Sozialverwaltung.

Ergebnis einer längeren Forschungsarbeit sind die vier Beiträge über die Geschichte der Wiener Kinderübernahmestelle und das Sozialprofil der dort untergebrachten Kinder. Im Anhang finden sich Tabellen über die statistische Auswertung der Kinderkarteikarten der Geburtenjahrgänge 1931 und 1938. Auch diese Einrichtung, gegründet im Jahr 1925 von dem Arzt und sozialdemokratischen Politiker Julius Tander, ging auf die Reformbemühungen von Fürsorge und Psychiatrie zurück. Sie fungierte als Aufnahme- und Vermittlungsstelle für hilfsbedürftige Kinder. Dort sollte ein individuelles Begutachtungsverfahren die Entscheidung der Sozialverwaltung über weitere Fürsorgemaßnahmen (Pflegefamilie, Einweisung in Fürsorge- oder Pflegeanstalten) vorbereiten. Für die NS-Zeit konstatieren Vera Jandrisits und Regine Böhler eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Jugendfürsorgeinstitutionen wie auch eine eingespielte Arbeitsteilung von Fürsorgern, Erziehungsberatern, Medizinern und Psychiatern bei der Erfassung und Klassifizierung nach psychiatrischen und somato-medizinischen Kategorien. Demgegenüber bewirkte ein immer größer werdender ökonomischer Druck die wachsende Unterversorgung der Schutzbedürftigen. Dass die repressiven Mechanismen der "Aussonderung von Gemeinschaftsfremden" innerhalb des Wiener Jugendamtes auch zur Überstellung in die Hände der Kriminalpolizei geführt haben, damit beschäftigt sich der Beitrag von Regina Fritz über die Geschichte der beiden Jugendschutzlager Moringen und Uckermark. Offen bleibt, in welchem Umfang dies geschah.

Im vierten Teil "Überlegungen zur Beschäftigung mit Überlebenden aus psychoanalytischer und psychiatrischer Sicht" (335-388) geht es um die Folgen der erlittenen Repression und Traumata für die Betroffenen. Vorab führt Marie Luise Kronenberger mit ihrem Beitrag "Krankengeschichten und Diagnosen" vor, nach welchen Kriterien eine kritische Lesart der den repressiven Maßnahmen zugrunde liegenden Diagnosen wie "angeborener" und "moralischer Schwachsinn" oder "erbkrank" erfolgen kann. In den weiteren drei Beiträgen werden die Interviews und Gespräche mit Überlebenden aus dem "Spiegelgrund", die von der Forschergruppe um Marie-Luise Kronberger, Ernst Berger und Elisabeth Brainin geführt wurden, ausgewertet und in den Kontext des interdisziplinären Forschungsvorhabens gesetzt. Analysiert werden individuelle und kollektive Bewältigungsversuche der ehemaligen "Spiegelgrundkinder". So trugen "Identifizierungen mit hilfreichen Aspekten schützender Objekte sowohl während als auch nach dem Anstaltsaufenthalt" (383) zur Stärkung des inneren Haltes wie des Selbstwertes bei, was vielen einen wichtigen Schutz für die spätere Verarbeitung bieten konnte. Einigen Gesprächspartnern half zudem, dass sie sich als Zeitzeugen für Gespräche zur Verfügung stellten und sich mit den zeithistorischen Bedingungen ihrer Repressionserfahrung auseinandersetzten. Dass sich die Betroffenen erst Mitte der Neunzigerjahre als "Spiegelgrundkinder" suchten und sich seitdem auch regelmäßig trafen, lag daran, dass erst zu diesem Zeitpunkt eine öffentliche Auseinandersetzung um Anerkennung und Entschädigung dieser "vergessenen" Verfolgtengruppe in Österreich begonnen hat.

Annette Eberle