Rezension über:

Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der deutschen Fotoindustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen (1945-1995) (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; Bd. 18), Essen: Klartext 2009, 311 S., ISBN 978-3-8375-0012-7, EUR 29,95
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Rezension von:
Rainer Karlsch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Karlsch: Rezension von: Silke Fengler: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der deutschen Fotoindustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen (1945-1995), Essen: Klartext 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/16252.html


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Silke Fengler: Entwickelt und fixiert

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Am 17. Februar 2008 kam es zur spektakulärsten Sprengung in der Geschichte Münchens. Das 52 Meter hohe Agfa-Haus wurde zugunsten eines neu entstehenden grünen Viertels abgebrochen. Dieser Abriss war symbolträchtig: Damit verschwand ein weiteres Überbleibsel der einstmals stolzen und leistungsstarken deutschen Kamera- und Fotoindustrie. Warum der Lebenszyklus dieser Branchen in beiden deutschen Staaten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert endete, ist die zentrale Frage des sehr lesenswerten Buches von Silke Fengler, das auf ihrer 2007 an der RWTH Aachen verteidigten Dissertation beruht.

Im ersten Kapitel wird das Modell der Pfadabhängigkeit als methodischer Ansatz für die Untersuchung vorgestellt und in den folgenden Ausführungen überzeugend am Beispiel der klassischen Silberhalogenid-Fotografie demonstriert. Diese bildete sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus und erreichte mit der Entwicklung des Agfa-Colorfilms 1936 einen Höhepunkt. Der Actiengesellschaft für Anilinfabrikation (Agfa) gelang damit der Aufstieg zum Global Player und zum zweitgrößten Unternehmen der Fotochemie weltweit, übertroffen nur von Eastman Kodak. Wichtigster Produktionsstandort der Agfa war seit 1909 das in der preußischen Provinz Sachsen (heute Sachsen-Anhalt) gelegene Wolfen. Die Fotopapierfabrik in Leverkusen erlangte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als dort als Ersatz für die nunmehr in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) liegenden Produktionskapazitäten eine neue Filmfabrik erbaut wurde, zunehmende Bedeutung. Konsequent konzentriert sich Silke Fengler auf die Hauptlinien der Unternehmens- und Technikgeschichte beider Standorte. Nur soweit es für das Verständnis der Gesamtentwicklung der Agfa zwingend erforderlich ist, wird auch die Entwicklung der Kamerafabrik in München berücksichtigt.

Im zweiten Kapitel wird der Aufstieg der Agfa zum Weltunternehmen beschrieben. Die Autorin referiert dazu die einschlägige Literatur. Die Rollen der einzelnen Standorte waren klar verteilt: Wolfen produzierte Film, Leverkusen Fotopapier und das Kamerawerk München lieferte Kameras und Laborgeräte, während die Berliner Vertriebszentrale den Absatz organisierte, ganz nach dem Prinzip "alles aus einer Hand". Etwas mehr hätte man gern zur Konkurrenz mit Kodak erfahren, zumal die Autorin hervorhebt, dass das amerikanische Unternehmen für die Agfa das Maß aller Dinge war und blieb. Phasen eines scharfen Preiskampfes wechselten wiederholt mit Versuchen zur Interessenabgrenzung, bis hin zu Kartellabsprachen. [1]

Im dritten Kapitel wird die Teilung des Unternehmens in einen ost- und einen westdeutschen Nachfolger behandelt. Sowohl der Agfa AG Leverkusen als auch dem VEB Filmfabrik gelang es in einer etwa 20-jährigen Rekonstruktionsphase an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war die Beibehaltung der historisch gewachsenen arbeitsteiligen Strukturen und wechselseitigen Bindungen, trotz innerdeutscher Grenze und den Friktionen des Kalten Krieges.

Auch der Wolfener Filmfabrik gelang, wie Fengler überzeugend belegt, die Rückgewinnung von Exportmärkten und dies trotz erheblicher Verluste durch Abwanderung und Demontagen. Allerdings deuteten sich Ende der 1950er Jahre zunehmende Probleme an: Die Filmfabrik stieß an ihre Kapazitätsgrenzen, ein Ende der Kooperation mit Leverkusen zeichnete sich ab, es gab Qualitätsprobleme, der Export ging zunehmend in die RGW-Länder, ein Zusammengehen mit der Kameraindustrie in Dresden kam nicht zustande und die Forschungsleistungen stagnierten. All dies wurde jedoch noch durch den hervorragenden Markennamen und das komplette Sortiment an Filmen, das Wolfen zu bieten hatte, überdeckt. Ein Aspekt kommt in der Darstellung etwas zu kurz. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des VEB Filmfabrik Wolfen hingen auch damit zusammen, dass in den 1950er und 1960er Jahren die Herstellung von Chemiefasern in Wolfen einen immer größeren Stellenwert einnahm. Beide Produktionslinien an einem Standort zu betreiben, war denkbar ungünstig, doch wurde diese der Kriegswirtschaft des NS-Regimes geschuldete Struktur bis zum Ende der DDR beibehalten.

Im vierten Kapitel analysiert die Autorin die Ausreifungs- und Stagnationsphase (1964-81) der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen bzw. ab 1970 Fotochemischen Kombinats. Insbesondere dieser Teil des Buches, der den größten Umfang einnimmt, besticht durch eine sehr dichte und quellengesättigte Darstellung. Mit dem Konzentrationsprozess in der westdeutschen Fotoindustrie und dem 1964 erfolgten Zusammenschluss mit der Gevaert Photoproducten N.V. Mortsel konnte die Agfa ihre Marktpositionen ausbauen. In Schwierigkeiten geriet zuerst die Kameraproduktion. Die Unternehmensleitung schätzte den Trend zur Digitalisierung falsch ein. Während man in München auf einen schnellen Einstieg in die elektronische Bildaufzeichnung drängte, sah man in Leverkusen keinen akuten Handlungsbedarf. Erst nach herben Rückschlägen entschloss sich Agfa-Gevaert nicht länger am Agfa-Colorverfahren festzuhalten, sondern nun doch das Amateurfilmsegment Kodak-kompatibel zu machen. Dies gelang nur, weil die Konzernmutter Bayer einen solchen Schritt unterstützte.

Über vergleichbare Ressourcen verfügte Wolfen nicht. Dort war inzwischen das Agfa-Erbe schon weitgehend aufgezehrt. Die Ursachen für die schwere Krise, in die das Fotochemische Kombinat Mitte der 1970er Jahre geriet, werden überzeugend analysiert. Weder kam es, trotz einiger Ansätze, zu einer funktionierenden Arbeitsteilung und Forschungskooperation im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) noch konnten die Schwächen in der Forschung und Entwicklung überwunden werden. Selbst auf den osteuropäischen Märkten kam Wolfen mehr und mehr unter Druck. Dabei wusste die Leitung des Kombinats sehr wohl, was zu tun gewesen wäre: Schnellstmöglich auf das Kodak-System im Farbfilmbereich überzugehen. Doch alle diesbezüglichen Forderungen verhallten bei den zentralen Planungsbehörden und für einen Alleingang reichten die Ressourcen des Kombinats nicht aus. Bis 1990 sollte dennoch der Umstieg auf neue Kodak-kompatible Farbfilme bewältigt werden, wozu es aber nicht mehr kam.

Etwas knapp geraten ist der Epilog in Kapitel fünf. Silke Fengler beschreibt die kurze Phase der Hoffnung auf eine Rückkehr der Agfa an ihre alte Wirkungsstätte und die anschließende Enttäuschung über das Ende der Filmfabrikation in Wolfen Mitte der 1990er Jahre. Zehn Jahre später musste auch Agfa Photo Insolvenz anmelden. Hauptgrund dafür war das zu lange Festhalten an einem spezifischen nationalen Technologiepfad. Inwieweit sich aus dem Modell der Pfadabhängigkeit weiterreichende Schlussfolgerungen über das Innovationsverhalten in verschiedenen Wirtschaftssystemen ableiten lassen, bleibt weiter zu prüfen. Der wissenschaftliche Apparat sowie Glossar und Abkürzungsverzeichnis sind ebenso sorgfältig erarbeitet worden wie der gesamt Text. Insgesamt reiht sich die Studie von Silke Fengler würdig ein in die qualitativ hochwertige Reihe der Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte.


Anmerkung:

[1] Vgl. Mike Luck: Historisch-wirtschaftliche Entwicklung der Eastman Kodak AG in Deutschland von 1927-1956, Diplomarbeit, Humboldt-Universität Berlin, 30.1.1996, IFM Wolfen, Archiv Nr. 475.

Rainer Karlsch