Rezension über:

Pierre Chotard: Anne de Bretagne. Une histoire, un mythe, Paris: Somogy éditions d'art 2007, 206 S., ISBN 978-2-7572-0063-6, EUR 28,00
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Rezension von:
Dagmar Eichberger
Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Dagmar Eichberger: Rezension von: Pierre Chotard: Anne de Bretagne. Une histoire, un mythe, Paris: Somogy éditions d'art 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/13823.html


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Pierre Chotard: Anne de Bretagne

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Anlass der Ausstellung "Anne de Bretagne, une histoire, un mythe" war der Abschluss der Renovierungsarbeiten am Schloss von Nantes und die Neueröffnung des dort situierten historischen Museums (Musée d'histoire de Nantes). Die begleitende Publikation besteht aus sechzehn reich bebilderten Kurzbeiträgen, einem Katalogteil, einem tabellarischen Lebenslauf der Protagonistin und einer Bibliografie. Sie zielt vor allem auf die Rekonstruktion der historischen Person Anne de Bretagne (1477-1516), die als letzte Erbin des mächtigen Herzogtums im Nordwesten Frankreichs eine begehrte Heiratskandidatin war und als zweifache Königin in die Geschichte Frankreichs einging. [1] Des Weiteren ging es den Organisatoren um die Offenlegung der Mechanismen, die im 19. und 20. Jahrhundert zur Idealisierung und Mythologisierung der Herzogin führten. Hierbei wurden die regionale - also die bretonische - und die nationale - das heißt die französische - Signifikanz Annes de Bretagne sowie ihre politischen und kulturellen Aktivitäten beleuchtet. Das überwiegend aus Historikern und Archivaren bestehende Organisationskomitee baute vor allem auf die Interpretation originaler Dokumente, ergänzt durch die Einbeziehung kulturhistorischer Objekte und Gebrauchsgegenstände. Hierbei kam es dem Ausstellungsleiter Pierre Chotard nicht in erster Linie auf die Präsentation originaler Kunstwerke, sondern auf deren historischen Gehalt an. Etwa ein Fünftel der ausgewählten Gegenstände war lediglich durch fotografische Reproduktionen oder Abgüsse vertreten.

Der Katalog versucht in verschiedener Hinsicht neue Wege zu beschreiten - "une démarche rigoureuse de pédagogie et de réflexion critique", wie es im Vorwort von Christine Albanel heißt. Die Titel aller sechzehn Aufsätze sind als Fragen formuliert. Hierdurch soll den Interessen der breiten Bevölkerung Rechnung getragen werden. Die vierzehn Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit Aspekten wie zum Beispiel: "War Anne de Bretagne schön?" (41-47), "Wie lebte und starb ein königliches Kind wie Charles Orland?" (49-55), "Was weiß man von der Musik am Hofe der Anne de Bretagne?" (97-103), "Wie kam es, dass Anne de Bretagne mehr bretonische als französische Züge annahm?" (121-27), "Ist Anne de Bretagne im Laufe der Zeit zum rein touristischen und kommerziellen Motiv geworden?" (135-37).

Die Entscheidung, einen Katalog für die Allgemeinheit und nicht für das Fachpublikum zu erstellen, hat für die Ausrichtung der Publikation erhebliche Konsequenzen. Die Bibliografie ist sehr selektiv und enthält nur Bücher und Artikel, die sich direkt auf Anne de Bretagne oder ihr Territorium beziehen. Der Katalogteil ist in Hinblick auf Struktur und Länge ebenfalls als minimalistisch zu bezeichnen. Er nimmt mit den in den Text integrierten Bildern nur ein Viertel des Gesamtumfangs der Publikation ein und enthält neben der obligatorischen Objektdokumentation nur gelegentlich einen beschreibenden Absatz, nie aber weiterführende bibliografische Hinweise. Dem interessierten Leser wird auch in den Aufsätzen nur wenig Fachliteratur zur Verfügung gestellt. So findet sich zum Beispiel im Anhang des Beitrags von Michael Jones, "Les manuscrits enluminés d'Anne de Bretagne: livres précieux ou instrument de propagande?" (85-95), eine Liste der noch erhaltenen Kopien des von Pierre Choque verfassten Berichts zur Begräbnisfeier der 1515 verstorbenen Königin ("Commemoration et advertisement de la Mort de [...] Madame Anne"). Der Autor verweist jedoch nicht auf die einschlägigen Vorarbeiten von Helene Bloem. [2] In dem Aufsatz von Fanny Cosandey, "Anne de Bretagne, une princesse de la Renaissance?" (31-39), wird die Krönungshandschrift aus Waddesdon Manor zwar im Text abgebildet. Der Fachkatalog von Delaissé, Marrow und DeWitt, der wichtige Informationen enthält, bleibt aber unerwähnt. [3]

Ein schlanker Ausstellungskatalog, der ohne großes wissenschaftliches Corpus auskommt, muss nicht zwangsläufig auf interessante Fragen und Forschungsergebnisse verzichten. So vermittelt zum Beispiel der Aufsatz von Thierry Crépin-Leblond neue Einblicke in den ehemaligen Kleinodienbesitz der Königin und ihrer Familie. Viele kostbare Objekte werden hier zum ersten Mal zusammengeführt. Das Fachpublikum kommt auch dann auf seine Kosten, wenn wichtige Miniaturen in Farbe abgebildet werden. Als Beispiele seien hier zwei weniger bekannte Einzelminiaturen mit der Darstellung Ludwigs XII. und Annes de Bretagne im Gebet genannt (Kat. Nr. 110-111). Auch drei Abbildungen aus dem Krönungsbericht von 1504 ("Le Sacre de Sainct Denis", Waddesdon Manor, Rothschild Collection, ms. 22; Kat. Nr. 100-102) sind hervorzuheben. Der Katalog enthält des Weiteren wichtige Informationen zu den Archivalien, die sich bis heute in Nantes und andernorts erhalten haben. Der Aufsatz von Marie-Christine Remy, "Qu'est-ce que la trésorerie des Ducs de Bourgogne?" (67-73), liefert hierzu interessante Hinweise.

Kennzeichnend für viele Beiträge ist allerdings auch, dass die Analyse der historischen Person Anne de Bretagne völlig isoliert und ohne Berücksichtigung der bereits geleisteten kunsthistorischen Forschung zu geschehen scheint. Eine Verknüpfung mit den Diskursen und Erkenntnissen der Sammlungsgeschichte und der Genderforschung wurde offenbar nicht angestrebt. Viele der hier vorgestellten Charakteristika Annes de Bretagne ließen sich mühelos mit der Selbstdarstellung, dem Mäzenatentum und dem Sammelwesen anderer frühneuzeitlicher Frauen wie etwa Louise von Savoyen, Anne de Beaujeu, Marguerite de Navarre und Margarete von Österreich verknüpfen. Die Aufsatzsammlungen von Kathleen Wilson-Chevalier zu führenden Frauen des französischen Hochadels [4] und die Beiträge von Anne-Marie Legaré zur Rolle illuminierter Handschriften am französischen Hof [5] seien hier exemplarisch erwähnt.

Sowohl in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten und Belgien arbeiten zurzeit verschiedene Kunsthistoriker daran, die Inventare und Handschriften der Anne de Bretagne aufzuarbeiten und ihr Verhältnis zu Kunst, Literatur und Hofkultur näher zu bestimmen. Es bleibt zu wünschen, dass diese Projekte einen weiteren Bogen spannen, als dies in Nantes geschah, und die hier erwähnten Lücken schließen werden. Der Ausstellungskatalog beschränkt sich - wie der Titel sagt - auf die Geschichte und den Mythos Anne de Bretagne. Er liefert der Forschung einige wertvolle Bausteine, ohne das Thema jedoch erschöpfend zu behandeln.


Anmerkungen:

[1] Anne de Bretagne war in erster Ehe mit Kaiser Maximilian I. (1491), dann mit König Karl VIII. (1491-98) und schließlich, in dritter Ehe, mit König Ludwig XII. (1498-1515) verheiratet.

[2] Helene M. Bloem: The processions and decorations at the royal funeral of Anne of Britanny, in: Bibliothèque d'humanisme et renaissance 54 (1993), 131-160.

[3] Léon Delaissé / James Marrow / John DeWitt: The James A. de Rothschild Collection at Waddesdon Manor. Illuminated Manuscripts, Fribourg 1977.

[4] Kathleen Wilson-Chevalier / Éliane Viennot (éds.): Royaume de Fémynie. Pouvoirs, contraintes, espaces de liberté des femmes de la Renaissance à la Fronde, Paris 1999; Kathleen Wilson-Chevalier (éd.): Patronnes et mécènes en France à la Renaissance, Saint-Étienne 2007.

[5] Anne-Marie Legaré (éd.): Livres et lectures de femmes en Europe entre Moyen Âge et Renaissance, Turnhout 2007.

Dagmar Eichberger