Rezension über:

Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855 - 1873 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 12), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 596 S., ISBN 978-3-506-76847-6, EUR 85,00
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855 - 1873, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16176.html


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Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus

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Die von Barbara Vogel betreute Dissertation (Universität Hamburg) "leistet erstmals eine Zusammenführung von Konservativismus- und Antisemitismusforschung für das mittlere 19. Jahrhundert in Preußen." (11) Im Zentrum der Untersuchung steht Hermann Wagener, der an der Spitze des sozialpolitischen Flügels der einflussreichen preußischen "Konservativen Partei" stand und zeitweilig eine eigenständige sozialkonservative Partei gründen wollte. Die markantesten Ergebnisse: Die von den preußischen Sozialkonservativen vertretenen Positionen erfüllten "durchweg alle Kriterien [...], die an einen sogenannten 'modernen' Antisemitismus angelegt werden müssen, dessen Entstehung bislang nach der Gründerkrise verortet wurde." (11)

Die Brisanz dieses Ergebnisses erschließt sich erst, wenn man es vor dem Hintergrund des weiteren historischen Umfelds interpretiert, was der Autor weitgehend unterlässt, weil in Fachkreisen allgemein bekannt ist: Moderner "Antisemitismus" ist national und rassistisch, die davor bestehende traditionelle "Judenfeindschaft" vorwiegend religiös begründet. Adolf Stoecker, von 1874 bis 1890 einer der Prediger am preußischen Hof und die von ihm 1878 mit begründete antisemitische "Christlich Soziale Arbeiterpartei" (ab 1881 "Christlich Soziale Partei") gehörten zu den politischen Hauptvertretern des modernen Antisemitismus. Treitschke ("Die Juden sind unser Unglück") wurde durch den auf ihn zurückgehenden Berliner Antisemitismusstreit (1879) einer der führenden intellektuellen Wegbereiter des modernen Antisemitismus. Stoecker wie Treitschke wirkten vor allem nach der Gründerkrise, und nun soll der moderne Antisemitismus nachweislich schon vor der Gründerkrise, nämlich in dem vom Verfasser untersuchten Zeitraum von 1855 bis 1873 im sozialpolitischen Flügel um Hermann Wagener in der preußischen "Konservativen Partei" Fuß gefasst haben, und das nicht nur ideologisch (was schon vorher bekannt war), sondern als weiteres markantes Ergebnis der Dissertation: Der Antisemitismus wurde politisch gegen den Liberalismus instrumentalisiert, um in Zeiten des raschen Wandels bei den Verlierern dieses Wandels, im Handwerk, aber auch bei den Arbeitern, Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen, vor allem während der parlamentarischen Krise der Sozialkonservativen 1860 bis 1864 und dann von 1868 bis 1872, als Wagener versuchte, eine eigenständige sozialkonservative Partei zu gründen (21f.).

Die antisemitische Vorgeschichte des parteipolitischen Konservativismus in Preußen ist damit um einiges länger, als man bisher gemeinhin annahm. Die Forschung hat diese frühen Zusammenhänge von Antisemitismus und (Sozial-)Konservativismus allenfalls nur in Ansätzen, manchmal sogar fälschlich dargestellt oder gänzlich ausgeblendet und sich - mitunter politisch interessiert - nur auf die sozialen Anliegen des Sozialkonservativismus kapriziert. Die genaue Verortung der Arbeit in den Forschungsstand nimmt der Verfasser in seiner mustergültigen Einleitung vor, die so genau über die Ergebnisse der Arbeit und das untersuchte Quellenmaterial informiert, dass ein eiliger Leser allein mit der Lektüre der Einleitung es sein Bewenden haben lassen kann.

Der Hauptteil widmet sich im Wesentlichen den allgemein-politischen, den parteipolitischen und den publizistischen Aktivitäten von Hermann Wagener, und die waren ausgesprochen vielfältig. Das politische Wirken Wageners wird mit ausführlichen Einzelstudien bedacht: Von den Anfängen im preußischen Abgeordnetenhaus über seine Tätigkeit im "Preußischen Volksverein", der sich gegen den liberalen Nationalverein und gegen die Fortschrittspartei richtete und den Wagener mit begründete, bis hin zum Versuch der Gründung einer eigenständigen sozialkonservativen Partei (1869-1873).

Auch das publizistische Wirken wird sehr eingehend untersucht in Kapiteln mit den Überschriften: "Das Preußische Volksblatt (1859-1863) - die sozialkonservative Tageszeitung", das "Staats- und Gesellschaftslexikon", das Wagener 1858 bis 1867 herausgab und das als konservatives Konkurrenzorgan zu dem weithin bekannten liberalen Staatslexikon von Rotteck und Welcker fungierte. Ferner "Die Berliner Revue (1859-1864) - die sozialkonservative Wochenschrift", "Der Kleine Reaktionär" (1862-1864) - das sozialkonservative Satireblatt" und "Der Kalender des preußischen Volksvereins (1862-1864) - ein sozialkonservativer Jahreskalender".

In diesen zuweilen üppigen Einzelstudien belegt der Autor seine Thesen, und zwar so eingehend, dass eine Infragestellung kaum mehr möglich sein wird. Die Arbeit ist im Unterschied zu vielen anderen Arbeiten fragestellungsgeleitet und orientiert sich nicht an geschlossenen Aktenbeständen. Und das hat immer, wenn es gelingen soll, umfangreiche und zeitintensive Recherchen in Quellenbeständen verschiedenster Provenienz zur Folge. Darin liegt ein ganz besonderes Verdienst dieser vom methodischen Zuschnitt nicht leichten Arbeit.

Allerdings: Die aufbereitenden Kapitel referieren häufig breit das Material, sind über weite Strecken nur Inhaltswiedergaben, die allerdings auf die Anliegen der Arbeit hin orientiert sind. Aber es kommt thematisch eben häufig zu Doppelungen. Das erschwert das Durcharbeiten der knapp 600 Seiten langen - obendrein noch gekürzten - Fassung der Dissertation, dokumentiert jedoch die Thesen der Arbeit ausgesprochen intensiv. Das mag angesichts der nicht nur wissenschaftlichen Brisanz der Ergebnisse seine Berechtigung haben.

Um nur ein Beispiel zur nicht immer gelungenen Darstellung zu geben: Bei der Zeitschriftenanalyse wird eine Fülle von zum Teil inhaltlich in die gleiche Richtung gehenden Karikaturen herangezogen. Aber häufig wird nur die Abbildung wortreich beschrieben und nicht bildlich anschaulich wiedergegeben. Hier hat man entweder zu viel oder zu wenig gekürzt. Schön wäre es gewesen, wenn man nicht nur politische Aktivität nach politischer Aktivität und Zeitschrift nach Zeitschrift nacheinander abgearbeitet hätte, sondern wenn darin zuhauf befindliche gleiche Strukturen und Argumentationsmuster kapitelübergreifend analysiert worden wären. Das hätte man in einem systematisch zusammenfassenden Schlusskapitel machen können. So referiert das kurze Schlusskapitel im Wesentlichen nur, was in der Einleitung schon gesagt wurde. Aber bekanntlich kann man nach der Ansicht von Rezensenten immer noch etwas mehr und besser machen, was die Verdienste nicht schmälert, die bleiben:

Henning Albrechts überaus umfangreich mit Quellen abgesicherte Dissertation liefert das bemerkenswerte Resultat, dass der moderne Antisemitismus schon vor der Gründerkrise 1873 beim sozialpolitischen Flügel der Konservativen Partei in Preußen mit Wagener an der Spitze manifest ist und politisch gegen den Liberalismus instrumentalisiert wird. Die Arbeit liefert wichtige Bausteine gleichermaßen für die Antisemitismusforschung und die heute immer noch viele Desiderata aufweisende Konservativismusforschung in Deutschland. Darüber hinaus enthält die Dissertation nicht wenige, wertvolle Einzelstudien zum politischen Wirken Wageners und zu konservativen Presseorganen in der Zeit von 1855 bis 1873.

Manfred Hanisch