Rezension über:

Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des Sowjetischen Imperiums, München: C.H.Beck 2009, 447 S., ISBN 978-3-406-58266-0, EUR 26,90
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Rezension von:
Gerhard Simon
Universität zu Köln
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Simon: Rezension von: Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des Sowjetischen Imperiums, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/16288.html


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Helmut Altrichter: Russland 1989

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Das Jahr 1989 war entscheidend für Gorbatschows Politik der Perestroika, für das Ende des Kalten Krieges, für den Untergang der Sowjetunion und damit für die Zeitenwende am Ende des 20. Jahrhunderts. Nach den Ereignissen dieses Jahres gab es keinen Weg mehr zurück, es sei denn um den Preis eines großen Blutvergießens, den zu zahlen nicht einmal die Betonköpfe aus der sowjetischen Führung bereit und in der Lage waren, wie sich im August 1991 zeigte.

Dieses Buch listet mit großer Akribie und Detailtreue die Ereignisse des Jahres 1989 auf. Zu Recht wird dabei gleich zu Beginn betont, dass bei allem, was in Warschau, Leipzig oder Jerewan geschah, die Akteure davon ausgingen: Das letzte Wort hatte Moskau (16). Die grundstürzende Neuerung aber war, dass Moskau schwieg, als die kommunistische Partei in Polen in nicht zu überbietender Eindeutigkeit abgewählt wurde und als die Mauer in Berlin fiel. Damit ging das Gesetz des Handelns von der Moskauer Zentrale an die Peripherie des äußeren Imperiums über. Aber die Gorbatschow-Führung hatte nicht damit gerechnet und nicht verstanden, dass mit der De-facto-Aufgabe des äußeren Imperiums auch das innere zur Disposition stand. In atemberaubender Geschwindigkeit zerfiel die Sowjetunion Ende 1991 in 15 selbstständige Staaten. Zumindest rückblickend ist deutlich, dass auch dafür bereits 1989 die Weichen gestellt wurden, wie diese Monografie nachzeichnet.

Als Gliederungsprinzip dient dem Autor im ersten Kapitel eine Liste der Presseagentur Novosti über die zehn wichtigsten innenpolitischen Ereignisse des Jahres 1988 in der Sowjetunion. Dazu gehören die 19. Parteikonferenz der KPdSU, die den "Übergang von einer Liberalisierung zur Demokratisierung des Systems" (40) beschloss, ebenso wie das Erdbeben in Armenien und die gescheiterte Wirtschaftsreform. Auf diese Weise entsteht ein Panorama von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, auf dessen Hintergrund sich die Ereignisse des nächsten Jahres abspielten.

Das mit "Ende der Parteiherrschaft" überschriebene zweite Kapitel behandelt den gescheiterten Versuch, der Parteiherrschaft in halbfreien Wahlen neue Legitimität zu vermitteln, d.h. Demokratisierung und Machtmonopol der KPdSU gleichermaßen zu verwirklichen. Tatsächlich vermochte sich die Partei weder in einer kritischen Öffentlichkeit noch in Wahlen zu behaupten. Der neu geschaffene Volksdeputiertenkongress trug wesentlich zum Untergang der Parteiherrschaft bei, weil er dem Parteiapparat nicht untergeordnet war wie alle anderen Institutionen der Macht im Sowjetsystem.

Unter der Überschrift "Verfall der Staatsautorität" werden die - für die Gorbatschow-Führung ganz unerwartet - aufbrechenden Nationalitätenprobleme behandelt, die insbesondere im Südkaukasus und im Baltikum Hunderttausende auf die Straßen brachten und in Zentralasien wie auch im südlichen Kaukasus zu Gewalt, Flüchtlingselend und Todesopfern führten. In Russland und in der Ukraine signalisierten flächendeckende Streiks der Bergarbeiter die Massenmobilisierung und den Zusammenbruch des sowjetischen Systems der Herrschaft.

Das vierte und letzte Kapitel erzählt die Ereignisse der "Auflösung des Imperiums" in Ostmitteleuropa. Am Anfang stand die Abkehr von der Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität sozialistischer Staaten, die Gorbatschow zumindest indirekt schon in seinem Perestroika-Buch von 1987 formulierte und danach explizit viele Male wiederholte. So kam es zu jenem faszinierenden Dominoeffekt des Annus Mirabilis 1989, als in wenigen Monaten die kommunistischen Parteien in Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien die Macht verloren. Der angeblich so mächtige Militärblock des Warschauer Pakts und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe verabschiedeten sich sang- und klanglos aus der Geschichte. Verblüffend ist Gorbatschows Einschätzung im Dezember 1989 aus Anlass des Gipfeltreffens mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush sen. vor Malta: "Meiner Ansicht nach sollten wir die Dynamik dieser Prozesse begrüßen" (382). Ahnte er wirklich nicht, dass diese Dynamik auch die Sowjetunion und ihn selbst verschlingen würde? Dabei steht außer Frage, dass Gorbatschow die UdSSR als Staat erhalten wollte.

Dieses Buch ist ein zuverlässiger Wegweiser zu Hunderten von Ereignissen dieses Jahres 1989, die - leider ohne Sachregister - zuverlässig wiedergegeben und überzeugend gruppiert werden. Zentrales Quellenmaterial sind die Wochenberichte und analytischen Materialien von Radio Liberty; hinzu kommen die Protokolle der Tagungen des Volksdeputiertenkongresses und verschiedener Parteiinstitutionen, Gorbatschows Reden und Erinnerungen sowie sowjetische Printmedien.

Während manche Abschnitte eher kalendarisch-chronologisch angelegt sind, gelingen dem Autor immer wieder spannende und dynamische Partien: Die erste Tagung des Volksdeputiertenkongresses zeigte, dass es das Sowjetsystem, so wie es seit den 1960er Jahren bestand, praktisch nicht mehr gab (158ff). Packend wird die Geschichte vom Auffinden und der Bewertung des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt erzählt (280ff). Die Dramatik des Mauerfalls in Berlin entwickelt der Autor entlang der Flüchtlingswelle: "Wir wollen hier raus!" (348ff)

Einige kritische Anmerkungen: Die estnische Hauptstadt Tallinn wird unerklärlicherweise mit einem n geschrieben. Der Titel "Russland" erscheint nicht gerechtfertigt, es sei denn unter Marketing-Gesichtspunkten. Tatsächlich handelt das Buch von der Sowjetunion und ihrem ostmitteleuropäischen Imperium. Manche analytischen Fragen bleiben ungestellt und unbeantwortet: Bei aller Bedeutung des Gorbatschow-Faktors, was waren die Gründe für die Morschheit des Sowjetsystems? Warum erwies es sich als reformunfähig, übrigens entgegen den Annahmen der westlichen Sowjetunionforschung? Hätte die Sowjetunion auch ohne KPdSU und ohne das ostmitteleuropäische Imperium fortbestehen können? Woher kamen, scheinbar plötzlich, die Nationalbewegungen, einschließlich der russischen, obwohl nach sowjetischer und weitgehend auch nach westlicher Einschätzung das Nationalitätenproblem doch als gelöst galt? War die Sowjetunion wirklich eine Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA?

Dieses Buch erzählt von vielen wichtigen Begebenheiten des Jahres 1989 in und um die Sowjetunion. Die Frage, warum eine Weltmacht in wenigen Jahren auf die Weise, wie es geschehen ist, einfach aus der Geschichte verschwinden konnte, wird die Forschung noch lange beschäftigen.

Gerhard Simon