Rezension über:

Wolfgang Gasser: Erlebte Revolution 1848/49. Das Wiener Tagebuch des jüdischen Journalisten Benjamin Kewall (= Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 3), Wien: Böhlau 2010, 545 S., ISBN 978-3-486-58939-9, EUR 49,80
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Rezension von:
Frank Engehausen
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Engehausen: Rezension von: Wolfgang Gasser: Erlebte Revolution 1848/49. Das Wiener Tagebuch des jüdischen Journalisten Benjamin Kewall, Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/16328.html


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Wolfgang Gasser: Erlebte Revolution 1848/49

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Der anzuzeigende Band verdankt seine Entstehung einem kuriosen Zufall: der Aufmerksamkeit eines Angestellten des Altstoffsammelzentrums im oberösterreichischen Bad Zell, der einen in hebräischer Kursive geschriebenen Tagebuchband vor der Wiederverwertung rettete und einer Lehrerin übergab, die ihn wiederum der Melker Stiftsbibliothek überließ, wo der Text von Gottfried Glaßner in einer Erstfassung transkribiert wurde. Die wissenschaftliche Bearbeitung übernahm Wolfgang Gasser, der in mühsamer Spurensuche als Autor des Tagesbuchs den 1806 im böhmischen Polna geborenen Juden Benjamin Kewall identifizierte, der bei Ausbruch der Revolution in Wien als Hauslehrer bei der Familie eines k.u.k. Hof-Pferdelieferanten tätig war und seit dem Jahresanfang 1849 als Journalist für mehrere Zeitungen arbeitete.

Der durch glückliche Fügung aus dem Müll gerettete Text ist das einzig erhaltene Fragment eines offenkundig sehr viel größeren Tagebuchwerks. Kewalls Aufzeichnungen setzen am 27. August 1848 ein und erstrecken sich bis zum 31. Mai 1850. Die Eintragungen erfolgen nahezu täglich; allerdings variiert die Länge der Tagesberichte erheblich: In der Hochphase der Wiener Revolution im Oktober und November 1848 umfassen sie zumeist mehrere Seiten, während sie für die Zeit der Festigung der Reaktionsherrschaft über die Stadt seit dem Frühjahr 1849 deutlich kürzer sind und sich für die ersten Monate des Jahres 1850 häufig nur mit wenigen Zeilen begnügen. Schon dies deutet auf die eminent politischen Interessen des Tagebuchschreibers hin, der sich darum bemüht, die Zeitgeschichte festzuhalten, und über seine persönlichen Verhältnisse - soweit sie nicht seine journalistische Tätigkeit betreffen - allenfalls nebenher berichtet.

Sein politisches Glaubensbekenntnis legt Kewall gleich zu Beginn seines Tagebuches ab, wenn er sowohl die "radicale Parthei, welche von einer östreichischen Monarchie" nichts wissen wolle, als auch die "fanatische Partei, welche die alten Zustände um jeden Preis" wieder aufzurichten strebe, kritisiert und sich selbst als in "der Mitte dieser beiden exaltirten Partheien stehend" (166) kennzeichnet. In der sehr unruhigen Situation in Wien im Herbst 1848 - die kaiserliche Familie hatte nicht zuletzt unter dem Eindruck der fortdauernden Sozialproteste die Stadt verlassen, in der die Regierung ihre Autorität kaum noch durchsetzen konnte - tendiert der als gemäßigter Liberaler zwischen die Fronten geratene Kewall zunächst zur Ordnungspartei und verdammt z.B. den Lynchmord an dem kaiserlichen Kriegsminister Graf Latour, an dessen Verstümmelung sich "die kannibalische Menge erheiterte" (200). Als sich die Revolution im Oktober zur bewaffneten Konfrontation zwischen den Wienern und den heranrückenden Truppen des Fürsten Windischgrätz und des kroatischen Feldherrn Jelacic zuspitzt, ist Kewall dann in erster Linie um seine persönliche Sicherheit besorgt und bedauert auch "die edlen Freiheitskämpfer, die armen Arbeiter", die den "Greuelthaten" der Okkupationsarmee - am "schändlichsten und blutdürstigsten benehmen sich die Polaken und Croaten" (233) -zum Opfer gefallen sind; sich selbst in die Phalanx der Verteidiger Wiens einzugliedern, kommt für Kewall indes nicht in Betracht, da er die Anarchie für die Frucht eines Siegs der Demokraten hält. Er verkörpert somit das allgemeine Dilemma des Liberalismus dieser Monate, der zwar mit manchen Zielen des Radikalismus sympathisierte, den Revolutionären deren Durchsetzung jedoch nicht zutraute, und sich deshalb mit der Hoffnung begnügen musste, dass die konterrevolutionären Kräfte selbst die Notwendigkeit einer Reform der alten Ordnung erkennen würden.

In der Übergangszeit vom Jahresende 1848 bis zum Frühjahr 1849, in der Wien unter militärischer Besatzung steht, aber noch völlig unklar ist, welche politischen Ziele der Kaiser, Windischgrätz und der Fürst von Schwarzenberg als neuer starker Mann im Hintergrund verfolgen, wird der konstitutionelle Politiker und Innenminister Franz Stadion für Kewall zur politischen Lichtgestalt, von dem er sich die Ausarbeitung einer Verfassung verspricht, "die ein Meisterstück von Freisinnigkeit" sein solle (306). Als die neue Verfassung Anfang März mit einer größeren Menge "absolutistischer Anklänge" oktroyiert wird, will Kewall die eingetretene politische Ruhe "nicht recht zusagen", weil "ich darunter einen gewaltigen Haken befürchte" (341). Diese Vorbehalte mildern sich auch in der Folgezeit nicht, wenngleich Kewall honoriert, dass die sich im März abzeichnende neue politische Ordnung - die Aufhebung der oktroyierten Verfassung erfolgte erst nach dem Ende der überlieferten Aufzeichnungen - den Juden die Emanzipation zu bringen verspricht. Reflektionen über die Rolle der Juden in der Revolution, die in den Reihen der "Spießbürger" verwurzelte Judenfeindschaft und die Notwendigkeit der Emanzipation nehmen in dem Tagebuch breiten Raum ein, das ebenso wie durch die liberale durch die jüdische Perspektive ihres Verfassers gekennzeichnet ist.

In diesem Kontext ist es bezeichnend, dass eine der wenigen Stellen des Tagebuchs, in denen Kewall seinen Blick auf die Revolution in den übrigen Staaten des Deutschen Bundes richtet, Gabriel Rießers Plädoyer für die Judenemanzipation in der Frankfurter Paulskirche zum Gegenstand hat (173), während die Arbeit der Deutschen Nationalversammlung in seiner politischen Wahrnehmung sonst kaum eine Rolle spielt und auch der Revolutionsverlauf in Preußen nur am Rande wahrgenommen wird. Im Dezember 1848 konstatiert Kewall: "Als Oestreich in Noth und von allen Seiten gedrängt war, da liebäugelte man gewaltig mit dem guten Michel. [...] Doch nun fühlt man sich wieder gesünder, und Michel wird aus dem Hause, in welchem er sich schon so heimisch fühlte, gejagt und mit Schimpf beladen. Die deutschen Farben sind ebenso verpönt als je in den guten seligen Tagen des H. Metternich" (294). Für Kewall selbst scheint die deutsche Einheit, auch wenn er in seiner Jahresbilanz für 1849 bedauernd festhält, sie zeige sich nur noch "in der trostlosesten Zerrissenheit zwischen den deutschen Stämmen" (455), ebenfalls kein vorrangiges politisches Problem gewesen zu sein - zumindest gerät sie gegenüber den aktuellen und für die österreichische Politik des Jahres 1849 unmittelbar relevanten Themen (Bestrafung der Wiener Revolutionäre und Niederschlagung des ungarischen Aufstands) ganz in der Hintergrund.

Gasser hat den in mehrfacher Hinsicht interessanten und lebendig geschriebenen Text Kewalls nur sparsam mit Sachanmerkungen annotiert, so dass es Leserinnen und Lesern, die mit der Geschichte der Revolution in Österreich nicht gut vertraut sind, gelegentlich Schwierigkeiten bereiten dürfte, den Kontext des Mitgeteilten zu erschließen; eine gewisse Hilfestellung hierfür bietet das sorgfältig gestaltete Personenregister, das jeweils auch die wichtigsten biographischen Daten mitteilt. Sehr üppig ist die unübersichtlich aufgebaute Einleitung geraten (9-139), die nicht nur von der Suche nach den biographischen Spuren Kewalls, der offenkundig Mitte der 1850er Jahre in seine Heimatstadt Polna zurückkehrte und dort bis zu seinem Tod 1880 in prekären materiellen Verhältnissen lebte, berichtet, sondern in teilweise umfänglichen Exkursen auch über autobiographisches Schreiben im 19. Jahrhundert, jüdische Lebenswelten in Österreich und über Juden und Antisemiten in der Wiener Journalistik. Gasser unterstreicht, wie dies das Genre einer akademischen Qualifikationsschrift verlangt, seine Gelehrsamkeit, greift dabei aber vielleicht etwas über das hinaus, was für eine Quellenedition, die den Anspruch erheben kann, das Interesse einer breiteren historisch interessierten Leserschaft zu finden, sachlich nötig gewesen wäre.

Frank Engehausen