Rezension über:

Bernhard H. Bayerlein (Hg.): "Der Verräter, Stalin, bist Du!". Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939-1941, Berlin: Aufbau-Verlag 2008, 540 S., ISBN 978-3-351-02623-3, EUR 29,95
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Rezension von:
Bianka Pietrow-Ennker
Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Bianka Pietrow-Ennker: Rezension von: Bernhard H. Bayerlein (Hg.): "Der Verräter, Stalin, bist Du!". Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939-1941, Berlin: Aufbau-Verlag 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/18399.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Bernhard H. Bayerlein (Hg.): "Der Verräter, Stalin, bist Du!"

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Sehr treffend schreibt Bernhard H. Bayerlein in seiner profunden Einleitung zum vorliegenden Quellenband, dass hier wohl die dunkelste Seite der Geschichte des internationalen Kommunismus dokumentiert werde. Die historische Forschung hatte bereits vor längerem - entgegen sowjetischen und anderen apologetischen Positionen - das Thema der Kommunistischen Internationale zur Zeit des so genannten "Hitler-Stalin-Paktes" (des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom 23. August 1939 mit seinem Geheimen Zusatzprotokoll über die Aufteilung Osteuropas in eine deutsche und eine sowjetische Interessensphäre) aufgegriffen. Doch es fehlte der Zugang zu dem Quellenmaterial, das das Verhältnis zwischen sowjetischer Führung und Komintern einerseits sowie zwischen Komintern-Führung und kommunistischen Parteien andererseits im Einzelnen nachwies. Da die "Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen" dieses Editionsprojekt förderte, konnten zentrale, bisher unzugängliche Quellenbestände ausgewertet werden. Vorgelegt wurde eine einzigartige Sammlung, die u.a. Einblick gibt in die chiffrierte Korrespondenz der Moskauer Komintern-Zentrale mit den kommunistischen Parteien in West- und Mitteleuropa, in Politbüro-Beschlüsse, Schriftwechsel zwischen den maßgeblichen sowjetischen Politikern und dem Exekutivkomitee der Komintern, Geheimdienstberichte oder parteiinterne Kommunikationsprozesse mit Schwergewicht auf den kommunistischen Parteien der Sowjetunion, Frankreichs und Deutschlands. Publizierte und unpublizierte Ego-Dokumente von Zeitzeugen ergänzen das Bild, indem die Auswirkungen der sowjetischen und der Komintern-Politik aus individueller Perspektive gezeigt werden.

Die Quellensammlung ist in sechs chronologische Teile untergliedert und folgt dem Prinzip einer historischen Collage. Teil I behandelt die Vorgeschichte und die unmittelbaren Folgen des Hitler-Stalin-Paktes im August und September 1939, Teil II dokumentiert insbesondere den Einfluss des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags vom 28. September 1939 auf die Strategie der Kommunistischen Internationale, Teil III ist dem sowjetischen Angriffskrieg auf Finnland im November 1939 und der damit einhergehenden Disziplinierung der kommunistischen Parteien gewidmet. Im vierten Teil kann verfolgt werden, wie sich die Taktik der Kommunistischen Internationale und ihrer Mitgliedsparteien angesichts des deutschen Vormarsches in Europa im Frühjahr und Sommer 1940 gestaltete, der fünfte Teil gibt Auskunft über die Anpassung an die deutsch-sowjetische Kooperation und den Widerstand gegen das weitere Vordringen Deutschlands auf dem Balkan, Teil VI berichtet von dem deutschen Überraschungsangriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und dem verzweifelten Bemühen, die Komintern erneut auf einen glaubwürdigen antifaschistischen Kurs einzuschwören. Das Misslingen dieser Kurskorrektur wird in einem Ausblick beschrieben, der bis zur Auflösung der Komintern im Mai 1943 führt.

Besonders hervorzuheben ist die ungewöhnlich anschauliche und übersichtliche Gestaltung der Quellensammlung, die als beispielhaft bezeichnet werden kann. Eine Art Legende, die reich bebildert ist, informiert auf jeder Seite über zeitgenössische wichtige Ereignisse, die zum Verständnis der jeweiligen Quelle beitragen. Jedem Thema geht eine kurze Einleitung des Herausgebers voraus, jede Quelle ist mit kurzen einleitenden oder weiterführenden Kommentaren versehen, die der Leserschaft Kontexte und Bezüge vermitteln. "Schlaglichter" geben zentrale Zusatzinformationen, z.B. in Form eines Organigramms über die Strukturen der Komintern. Hinzu kommt ein umfangreicher wissenschaftlicher Apparat, dessen Bibliographie, Personenregister, Liste der Pseudonyme etc. äußerst nützlich sind.

Das vorgelegte Material ist so ergiebig, dass breitere Ausführungen über die Rolle der stalinisierten Komintern angemessen wären, die jedoch diese Rezension aus räumlichen Gründen nicht leisten kann. Als tragisch kann die Funktion der Komintern in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs deshalb beschrieben werden, weil die Stalin'sche Führung als Folge des Hitler-Stalin-Paktes und der deutsch-sowjetischen Waffenbrüderschaft im Krieg gegen Polen im September 1939 den antifaschistischen Kurs aufgab und dies auch von der Komintern verlangte. Damit wurden die Ideale der kommunistischen Bewegung, die diese seit ihrer Entstehung formuliert hatte - Demokratie, Selbstbestimmung der Nationen u.a.m. -, in ihr Gegenteil verkehrt. Noch stärker als bisher wurde die Komintern zu einem Sprachrohr der sowjetischen Propaganda, die Großbritannien und Frankreich die Kriegsschuld am europäischen Krieg zuschob, den Untergang des polnischen Staates als eines faschistischen bejubelte, den Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, den baltischen Staaten, Finnland und Rumänien als Volksbefreiung feierte und der nationalsozialistischen Aggression Rückendeckung gab. Damit, so kommentiert Bayerlein bitter, trugen die Kommunistische Internationale und die ihr unterstellten Parteien zur Desorientierung und Demoralisierung bei und lieferten faktisch Europa der Kriegsmaschinerie Hitlers aus. Widerstand innerhalb der eigenen Reihen wurde mit den Mitteln der Denunziation und des Terrors gebrochen.

Bianka Pietrow-Ennker