Rezension über:

Peter Erhart / Karl Heidecker / Bernhard Zeller (Hgg.): Die Privaturkunden der Karolingerzeit, Dietikon-Zürich: Urs Graf-Verlag 2009, 287 S., ISBN 978-3-85951-272-6, EUR 59,00
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Rezension von:
Irmgard Fees
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Georg Vogeler
Empfohlene Zitierweise:
Irmgard Fees: Rezension von: Peter Erhart / Karl Heidecker / Bernhard Zeller (Hgg.): Die Privaturkunden der Karolingerzeit, Dietikon-Zürich: Urs Graf-Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/16766.html


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Peter Erhart / Karl Heidecker / Bernhard Zeller (Hgg.): Die Privaturkunden der Karolingerzeit

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Eine moderne Diplomatik der europäischen Privaturkunde des Mittelalters war lange ein Desiderat; gegenwärtig sieht es so aus, als wenn eine empfindliche Lücke sich bald schließen könnte. [1] Der vorliegende Band, hervorgegangen aus einer St. Gallener Tagung von 2006, bringt die Forschung jedenfalls einen großen Schritt weiter. Anlass der Tagung war die Arbeit an der Edition der Urkundenbestände des St. Galler Stiftsarchivs im Rahmen der Reihe der Chartae Latinae Antiquiores (ChLA), die sich dem 9. Jahrhundert widmet. Zwanzig Autoren referieren über das gemeinsame Thema aus unterschiedlicher Warte; sie behandeln einerseits Grundsatzfragen (Nicolaj, McKitterick, Brown), berichten aber vor allem über das Urkundenwesen zentraler Regionen des Karolingerreiches wie benachbarter Gebiete (Spanien, angelsächsisches England, Bretagne), geleitet von der Frage, inwieweit man mit Heinrich Fichtenau von "Urkundenlandschaften" sprechen könne. Die Autoren definieren den Begriff "Privaturkunde" dabei durchaus unterschiedlich: Einige, etwa Morelle und Zimmermann, schließen neben Herrscher- und Papsturkunden auch Bischofs-, Grafen- oder Synodalurkunden aus, und McKitterick plädiert für eine Revision der verbreiteten Unterscheidung zwischen Königsurkunden und Privaturkunden wenigstens für die Zeit der frühen Karolinger.

Der Band wird eingeleitet durch das Vorwort von Lorenz Hollenstein (7), eine Einleitung der Herausgeber (9-11), welche die Ziele des Bandes umreißt, und einen historisch und theoretisch weit ausgreifenden Beitrag von Giovanna Nicolaj (Dal particolarismo documentario altomedievale a una nuova unità carolina, 13-22), die en passant (19) den Vorschlag macht, der neuen, dem 9. Jahrhundert gewidmeten Serie der ChLA künftig Bände mit den nur kopial überlieferten Urkunden an die Seite zu stellen. Es folgen zunächst zwei Beiträge zur Spätantike: Francesca Macino (Documenti d'Impero: precedenti di età tardoantica, V - VI sec., 23-30) schildert, wie sich das Formular der Privaturkunden in den östlichen Provinzen des römischen Reichs, insbesondere Ägyptens, im Laufe des 4. bis 6. Jahrhunderts veränderte. Isabel Velázquez (Ardesie scritte di epoca visigotica: Nuove prospettive sulla cultura e la scrittura, 31-45) stellt die gut 160 von ihr selbst zuletzt im Jahre 2004 edierten Schiefertafeln vor, die überwiegend aus dem 6. bis 8. Jahrhundert und der zentralspanischen Region der Meseta stammen und in jüngerer römischer Kursive beschrieben sind.

Übergreifende Fragen behandeln die Beiträge von Rosamond McKitterick und Warren Brown; so legt McKitterick (Unity and diversity in Carolingian administrative practice, 85-94) dar, wie die fränkische Herrschaft in den neueroberten Gebieten, etwa Bayern und dem langobardischen Reich, dazu führte, dass Rechtsgeschäfte und Gerichtsentscheide schriftlich gefasst wurden; die Form dieser schriftlichen Äußerungen war jedoch stark von lokalen und regionalen Faktoren abhängig. Warren Brown (Die karolingischen Formelsammlungen - warum existieren sie?, 95-101) gibt der Überzeugung Ausdruck, dass die Formelsammlungen aus dem Gebiet nördlich der Alpen aus karolingischer Zeit die Bedürfnisse der Karolingerzeit widerspiegeln, auch wenn sie Material aus viel früherer Zeit verarbeiten.

Drei Autoren befassen sich mit den Urkunden Italiens: Herbert Zielinski (Die Charta der Langobarden. Forschungsgeschichte und aktuelle Perspektiven, 47-56) konstatiert, dass für die knapp 350 vom Ende des 7. Jahrhunderts bis 774 überlieferten Chartae trotz mancherlei Ansätze eine Diplomatik nach wie vor fehlt, und skizziert mögliche Themenschwerpunkte für ein solches noch zu schreibendes Werk. Cristina Mantegna (Il documento privato di area longobarda in età carolingia, 57-71) untersucht das Formular von Schenkungs-, Tausch-, Pacht-, Prekarie- und Verkaufsurkunden sowie die Verwendung der Notitia bzw. des Breve neben der Charta und legt dar, dass von einer einheitlichen Urkundenlandschaft in den langobardischen Gebieten der Karolingerzeit keine Rede sein kann. Francesca Santoni (Il documento privato di area romanica in età carolingia, 73-83) kann ebenfalls keine einheitliche Urkundenlandschaft in den nicht fränkisch oder langobardisch, sondern römisch-byzantinisch geprägten Landschaften Italiens erkennen; sie stellt Formular und Notarswesen aus Ravenna, Venedig und seiner Lagune, Rom und Neapel im 8. und 9. Jahrhundert vor.

Es folgen Arbeiten zum Westen, Nordwesten und Osten des Karolingerreiches. Laurent Morelle (Incertitudes et faux-semblants: quelques remarques sur l'élaboration des actes privés carolingiens à la lumière de deux gisements de France septentrionale - Sithiu/Saint-Bertin, Saint-Denis -, 103-120) unterzieht die aus 25 Stücken bestehende, rein kopiale Überlieferung an Privaturkunden des Klosters Saint-Bertin zwischen 770 und 872/3 und eine Originalurkunde aus dem Archiv von Saint-Denis von 943, die von Laien aus dem Poitou ausgestellt wurde, einer eingehenden Analyse. Benoît-Michel Tock (Les actes entre particuliers en Bourgogne méridionale, IXe-XIe siècles, 121-134) untersucht die insgesamt 761 ausschließlich zwischen Privatleuten geschlossenen Verträge im südlichen Burgund aus der Zeit 814-1041 mit dem Ziel, Aufschluss über das Aussehen der Urkunden außerhalb der kirchlichen Sphäre zu erhalten. Georges Declercq (Les Formulae salicae Lindenbrogianae et l'acte privé dans le nord-ouest du royaume franc à l'époque carolingienne, 135-144) weist die Entstehung der Formulae salicae Lindenbrogianae der Region zwischen Schelde und Maas zu und untermauert diesen Befund durch die Feststellung von Gemeinsamkeiten zwischen den aus diesem Raum überlieferten Urkunden mit den Formeln der Sammlung; eine durch besondere Charakteristika gekennzeichnete Urkundenlandschaft kann er hier nicht feststellen. Herwig Wolfram (Die bayerische Carta als diplomatisch-historische Quelle, 145-160) stellt die Formen der bayerischen Urkunden vor und unterscheidet dabei römisch-antike Einflüsse und frühmittelalterliche Neuerungen; insbesondere widmet er sich der Konsul-Datierung und dem Ohrenziehen der Zeugen.

Drei Beiträge widmen sich dem Urkundenbestand des Klosters St. Gallen und fragen nach den Unterschieden zwischen rätischem und alemannischem Urkundenwesen. Peter Erhart (Erratische Blöcke am Alpennordrand? Die rätischen Urkunden und ihre Überlieferung, 161-171) zeichnet unter Auswertung eines sechs Urkunden überliefernden Fragments eines in der Zeit um 800 angelegten Chartulars aus Oberrätien ein Bild der rätischen Urkundenlandschaft, die sich in Schreiberaktivitäten, Aufbewahrung und Archivführung von Alemannien abhebt. Bernhard Zeller (Urkunden und Urkundenschreiber des Klosters St. Gallen bis ca. 840, 173-182) untersucht die Entwicklung der St. Galler Urkunden epochenweise und konstatiert, dass Schrift und Formular immer einheitlich wurden und klösterliche die nichtklösterlichen Schreiber zunehmend ersetzten. Karl Heidecker (Urkunden schreiben im alemannischen Umfeld des Klosters St. Gallen, 183-191) vergleicht die 350 aus der Zeit 719-840 im St. Galler Archiv überlieferten Urkunden und unterscheidet dabei einerseits zwischen rätischen und alemannischen Stücken, andererseits zwischen klösterlichen und nichtklösterlichen Schreibern. Während sich die rätischen Urkunden in Schrift, graphischen Symbolen und Formular von den alemannischen deutlich unterscheiden lassen und auch typologisch variantenreicher sind, ordnen sich die alemannischen Urkunden stärker in ein gesamtfränkisches Bild der Privaturkunde ein; von einer "Urkundenlandschaft Alemannien" könne man nicht sprechen.

Studien zu Regionen an den Grenzen des Karolingerreiches runden den Band ab. So gibt Michel Zimmermann (L'acte privé en Catalogne aux IXe et Xe siècles: portée sociale, contraintes formelles et liberté d'écriture, 193-212) einen umfassenden Überblick über Privaturkunden in Katalonien in der Zeit zwischen 778 und 987, in der besonders die reiche Überlieferung (mehr als 5.000 Urkunden allein aus dem 10. Jahrhundert, überwiegend im Original erhalten) hervorsticht. Gesine Jordan (Kein "Urkundenterritorium" - Zur Diplomatik der bretonischen Privaturkunden im 9. und 10. Jahrhundert, 213-227) konzentriert sich wegen des Fehlens anderer Überlieferung auf die Chartulare der Klöster Redon und Landevennec und gelangt zu der Erkenntnis, dass die bretonischen Urkunden sich weitestgehend in die westfränkische Urkundenlandschaft einfügen; zwar sei die Bretagne auch diplomatisch gesehen eine Kulturlandschaft eigenen Charakters, stelle aber doch keine geschlossene Urkundenlandschaft dar. Anton Scharer (Das angelsächsische Urkundenwesen, 7.-9. Jahrhundert, 229-236) behandelt das gesamte angelsächsische Urkundenwesen, also nicht nur die Privaturkunden, sondern vor allem die zahlenmäßig weit überwiegenden Herrscherurkunden; er zeigt vier charakteristische Merkmale der Urkunden auf: ihre kirchliche Prägung, das Fehlen aller Authentizitätszeichen, das Vordringen der Volkssprache und die Tatsache, dass die Herrscherurkunden aus privaturkundlichen Elementen geschaffen worden seien und so ein "privaturkundliches Aussehen" (232) aufwiesen.

Abschließend betont Guglielmo Cavallo (Il contributo delle ChLA agli studi paleografici. Tre schizzi, 237-242) den großen Erkenntnisfortschritt, den die Bände der ChLA für die Paläographie des frühen Mittelalters, aber auch der Spätantike bewirkt haben, und Walter Pohl (Ausblick: Von der Vielfalt der Diplomatik, 243-248) plädiert dafür, die unterschiedlichen Zugänge zur Urkundenforschung - den "monumentistischen", der die Urkunde vor allem als Rechtsdokument auffasst und sich bei ihrer Analyse vom Ziel der Echtheitskritik leiten lässt, und den stärker kulturhistorischen, für den Paläographie und Diplomatik sich in ein Gesamtbild menschlicher Ausdrucksformen einer Epoche fügen - nicht gegeneinander auszuspielen.

Auf einige vorgesehene Beiträge zum ostfränkischen Reich mussten die Herausgeber verzichten, wie sie selbst bedauernd feststellen; so fehlt etwa die Auswertung der bedeutenden Urkundenbestände der Klöster Fulda, Hersfeld oder Lorsch. Trotzdem liegt nunmehr ein nahezu umfassender und äußerst wichtiger Band zur Privaturkunde der Karolingerzeit vor.


Anmerkung:

[1] Außer dem hier vorzustellenden Band sei auf ein neues Handbuch zum Thema verwiesen, das noch in diesem Jahr erscheinen soll: Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, wird laut Verlagsankündigung die europäischen Privaturkunden von den römischen Grundlagen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts behandeln.

Irmgard Fees