Rezension über:

Frank Grobe: Zirkel und Zahnrad. Ingenieure im bürgerlichen Emanzipationskampf um 1900 - Die Geschichte der technischen Burschenschaft (= Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert; Bd. 16), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009, XVIII + 702 S., ISBN 978-3-8253-5644-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Thomas Hänseroth
Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Hänseroth: Rezension von: Frank Grobe: Zirkel und Zahnrad. Ingenieure im bürgerlichen Emanzipationskampf um 1900 - Die Geschichte der technischen Burschenschaft, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/17319.html


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Frank Grobe: Zirkel und Zahnrad

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Die Geschichte von Ingenieuren und Technischen Hochschulen im Deutschen Kaiserreich ist ein vergleichsweise gut bestelltes Feld. Dies gilt auch für deren Emanzipationsbewegung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Fahrt aufnahm. Ingenieure befanden sich in Deutschland in der wenig komfortablen Situation, Nachzügler unter den klassischen bürgerlichen Berufen zu sein und erfuhren im von Geburtseliten und Bildungshumanismus geprägten Kaiserreich mehr als in anderen Industrieländern eine Stigmatisierung als Parvenüs. Ihre Emanzipationsbewegung zielte auf Sozialaufstieg sowie Teilhabe an kultureller Deutungshoheit und verfolgte zwei soziale Integrationsstrategien: Sie suchte einen Platz im alten Kosmos revitalisierter ständischer Bedeutungs- und Berechtigungsstrukturen noch zu finden und zugleich die neue Welt der Industrie zu gewinnen.

Hier setzt die aus einer am Historischen Institut der RWTH Aachen betreuten Dissertation hervorgegangene, mit rund 700 Seiten den Lesefleiß auf eine beachtliche Probe stellende Monographie von Frank Grobe an. Sie bezieht die Perspektive des studentischen Milieus und beleuchtet die burschenschaftliche Korporierung im Kontext der Emanzipationsbewegung. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem Kaiserreich. Damit gerät ein bislang kaum beachteter Schauplatz der Emanzipationsbewegung in den Fokus. Die Arbeit ist bemerkenswert quellengesättigt verfasst, wobei der Umstand, dass Grobe selbst Burschenschafter ist, vermutlich den Zugang zu sonst eher schwer zugänglichen Verbindungsarchiven erleichtert hat.

Im ersten Kapitel wird zunächst die Geschichte Technischer Hochschulen mit vergleichenden Blicken nach Frankreich und Großbritannien skizziert. Ebenso thematisiert werden hier die Herausforderung des Bildungshumanismus durch die um Sozialaufstieg bemühte Gruppe der Ingenieure und das zeitlich parallele Ringen der Gruppen der Tierärzte und Apotheker um gesellschaftliche Aufwertung. Das zweite Kapitel lenkt den Blick auf das studentische Milieu höherer technischer Bildungsstätten und erörtert verschiedene Facetten des mitteleuropäischen Phänomens technischer Burschenschaften. Hier wird der Stoff rund um die seit den 1860er Jahren gegründeten Korporationen und ihr Verhältnis zu den universitären Vereinigungen organisiert.

Die technischen Korporationen, die bald beachtliche Teile der Studentenschaft als Mitglieder zählen konnten, schlossen sich 1889 zum ersten Burschenschaftsverband zusammen. Dessen Geschichte wird im dritten Kapitel mit dem Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit den universitären Vereinigungen im Ringen um Anerkennung erzählt. Im vierten Kapitel untersucht Grobe das Wirken der Burschenschaften im Spannungsfeld zwischen Interessenwahrnehmung und sozialer Verantwortung, letzteres namentlich gegenüber der Arbeiterschaft. Dabei werden auch die Verbandszeitschrift der technischen Burschenschaften und personelle Netzwerke zwischen Burschenschaften, Standesvertretungen, Ministerialbürokratie und Regierungen analysiert.

Politische Orientierung und Arbeit der Korporationen werden sodann im fünften und umfangreichsten Kapitel im Kontext von Emanzipationszielen einerseits sowie prägenden politischen Strömungen und Auseinandersetzungen der Zeit auf der anderen Seite erörtert. Schließlich fragt Grobe noch in einem kurzen Schlusskapitel nach den Folgen des Ersten Weltkrieges für technische Korporationen im Allgemeinen und deren Ringen um Gleichziehen mit Universitätsburschenschaften im Besonderen. Der Anhang des Buches, das über Personen-, Orts- sowie Sach- und Korporationsverzeichnisse gut erschlossen werden kann, enthält einen instruktiven statistischen Teil und den Abdruck von zentralen Quellen zur Thematik.

Aufs Ganze gesehen birgt Grobes Buch interessante Einblicke in den Mikrokosmos des technischen Burschenschaftswesens im Kaiserreich. Es fand beachtliche Resonanz unter Ingenieurstudenten (technik- und wirtschaftsgeschichtlich Informierte werden auf viele vertraute Namen als Mitglieder von Burschenschaften stoßen) und besaß insofern zweifellos Bedeutung für die Sozialisation angehender Ingenieure und damit auch für den Emanzipationskampf der Gruppe. Die technischen Korporationen suchten Emanzipation besonders über eine habituelle Anpassung an das burschenschaftliche universitäre Milieu und dessen Bedeutungskonstruktionen zu erreichen. Dabei führte der vom Streben, die universitären Burschenschaften zu übertreffen, geleitete Eifer nachahmender Habitualisierung einschließlich der selektiven Adaption bürgerlicher Wertewelten, von Grobe im Sinne einer Überkompensation gedeutet, zur Dominanz nationalistischer und völkischer Positionen. Auch wenn ebenso liberale Traditionen rezipiert wurden und zudem sowohl generationell als auch lokal zu differenzieren ist, näherten sich in summa die technischen Burschenschaften immer stärker rechtsradikalen Positionen an. Das gemeinsame "Erleben der 'Volksgemeinschaft' im Schützengraben" (486) besitzt für Grobe dann entscheidende Bedeutung als Schlussstein nunmehr weitgehend erreichter Gleichrangigkeit der Studenten von Universitäten und technischen Hochschulen.

Die Studie endet mit einer Analyse der Weltkriegsniederlage aus der Perspektive des burschenschaftlichen Emanzipationskampfes einschließlich der Erwartungen der Burschenschafter an die Weimarer Republik. Daher liegt leider eine angesichts der nationalistisch-völkischen Orientierung technischer Burschenschaften sich hieran anschließende Frage nicht mehr im Fokus des Autors: Dies ist die Frage nach dem Anteil der Burschenschaften an der besonders von der Gruppe der Studenten ausgehenden Politisierung und Radikalisierung Technischer Hochschulen in der Weimarer Republik, womit auch jener in der Gruppe der Ingenieure weithin geteilte Konsens der Ablehnung parteipolitischer Betätigung aufgekündigt wurde.

Obwohl Frank Grobe zu konzedieren ist, auf Kontextualisierung seiner engeren Thematik bedacht zu sein, sind eben diese allgemeiner gehaltenen Teile zuweilen holzschnittartig geraten. So ebnet die schlichte Aussage, durch die Etablierung eines eigenen technischen Ausbildungssystems sei es "Preußen und Deutschland" ab Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen, England als technologische Führungsmacht abzulösen (30), Forschungskontroversen beachtlichen Ausmaßes ein und ignoriert zentrale, vom Bemühen um Vermeidung eindimensionaler Deutungsperspektiven geleitete Forschungsergebnisse. Ebenso unhaltbar in dieser Verkürzung ist, dass der Verein Deutscher Ingenieure sich nicht "generell für eine Hebung des Ingenieurstudiums" eingesetzt habe (298) bzw. "nur in geringem Maße Stellung zu Standesfragen bezog" (492). Dies hat er ungeachtet in der Tat öffentlich gewahrter berufspolitischen Enthaltsamkeit auf subtilere Weise, nämlich über die laut Satzung zentrale Aufgabe des VDI - die Wahrnehmung technisch-wissenschaftlicher Interessen - sehr wohl getan.

Mit der empirisch dichten Beschreibung des technischen Burschenschaftswesens hat Frank Grobe zweifellos einen erhellenden, über seine engere Thematik hinausweisenden Beitrag zur Geschichte von Technischen Hochschulen und Ingenieuren im Kaiserreich geleistet. Auch wenn vermutlich der nicht von genuinem burschenschaftlichen Interesse an der Thematik inspirierte Leser gelegentlich den Wunsch nach einer Straffung des detailfreudig ausgebreiteten Stoffes hegen wird, werden gleichwohl vor allem Leser mit Interesse an der Geschichte von Ingenieuren und Technischen Hochschulen im Allgemeinen sowie den technischen Korporationen im Besonderen den Band mit Gewinn lesen.

Thomas Hänseroth