Rezension über:

K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 120), München: Oldenbourg 2010, IX + 520 S., ISBN 978-3-486-59150-7, EUR 59,80
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Rezension von:
Susanne Greiter
Eitensheim
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Greiter: Rezension von: K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974, München: Oldenbourg 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/11/18295.html


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K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns

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Dass es sich bei der Dissertation K. Erik Franzens über den "vierten Stamm Bayerns" um mehr als nur die Geschichte der Integration der Sudetendeutschen und ihre spezielle Beziehung zum bayerischen Staat handelt, lässt nicht nur der beeindruckende Umfang von 520 Seiten erahnen. Die Studie beginnt mit einem Prolog über die großen Streitpunkte der deutsch-tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Spätestens da wird deutlich, dass diese Forschungsarbeit den Rahmen einer Abhandlung zur Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen zwischen 1954 und 1974 sprengt und damit auch nicht nahtlos in die seit den 1990er Jahren boomende Vertreibungs- und Integrationsliteratur einzureihen ist.

K. Erik Franzen, Mitarbeiter des Collegium Carolinum für die Geschichte der böhmischen Länder, skizziert sein Vorhaben in der Einleitung: Politikhistorisch soll die Entwicklung der Schirmherrschaft bis in die 1970er Jahre hinein nachgezeichnet werden. Die Studie wird jedoch um eine erinnerungskulturelle Komponente erweitert, die über die bayerischen Landesgrenzen hinausweist. Konkret geht es um die Frage nach der Bedeutung des von den Vertriebenenverbänden geprägten Opferdiskurses für das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland. Die Fokussierung auf identitätsbildende Aspekte der Vertreibungs- und Integrationsgeschichte überrascht keineswegs, hat sich der Autor doch über viele Jahre hinweg mit Veröffentlichungen über Opfer-Täter- Konstellationen und Zwangsmigrations-Diskurse einen Namen gemacht.

Der Prolog stellt zwei Themen in den Mittelpunkt, die beide kontrovers diskutiert werden und für die deutsch-tschechischen Beziehungen von nicht unerheblicher Bedeutung sind: das Münchner Abkommen von 1938 und die Beneš-Dekrete. Franzen gelingt der synthetisierende Überblick über die auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehende europäische Idee der ethnischen "Entmischung" als Königsweg des Friedens außerordentlich gut. "München" und die Beneš-Dekrete werden eingebettet - damit steht er ganz in der Tradition der integrativen Konzepte des Ostmitteleuropa-Experten Hans Lemberg und des NS-Forschers Götz Aly - in die Geschichte der Zwangsumsiedelungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in der Lebensraum-Politik Hitlers und der Vernichtung der europäischen Juden gipfelten. Dies war der Nährboden für die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. Gleichwohl lehnt Franzen das Konstrukt eines "roten Fadens" vom 19. Jahrhundert bis zur Vertreibung der Deutschen 1945/46 ab.

Auch das zweite Kapitel bleibt noch Vorgeschichte der Schirmherrschaft. Auf einer enormen statistischen Quellenbasis gibt der Autor einen Überblick über die unfreiwillige Zuwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Bayern in den Jahren 1945 und 1946. Methodisch entscheidet er sich für die migrationssoziologische Teilung der Integration in verschiedene Ebenen, die er als Raster nutzt, um den Prozess der Eingliederung der "Fremden" in Bayern zu untersuchen. Die Einteilung der Integration in eine kognitive, strukturelle und soziale Dimension bringt zum einen die in anderen Abhandlungen oft vermisste notwendige Ordnung in den komplexen Vorgang der Integration und strukturiert die kaum mehr zu überschauende Literatur aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen. Zum anderen ermöglicht ihm diese Sichtweise auch dort eine differenzierende Argumentation, wo andere über generalisierende Schlagworte nicht hinauskamen. Zudem werden zahlreiche Mythen als solche entlarvt, so die Narrative von der schnellen Integration und der "importierten Industrialisierung". Auch Forschungsdesiderate kristallisieren sich heraus, wie z.B. die Frage nach der Verarbeitung der Traumata in den Familien, die auf das immer mehr an Bedeutung gewinnende Generationengedächtnis verweist.

Den Einstieg in die Vertriebenenpolitik bis zur Übernahme der Schirmherrschaft 1954 bietet das dritte Kapitel, wobei es unter anderem um die Politik von Vertriebenen für Vertriebene geht. Dabei kann Franzen zeigen, dass bereits in der frühen Nachkriegszeit von den politischen Organisationen der Sudetendeutschen ein Opfernarrativ begründet wurde, in dem der Nationalsozialismus weitestgehend ausgeblendet blieb. Auf dieser narrativen Schiene, so Franzens Résumé, fuhren auch die bayerischen Regierungen, das SPD-geführte Kabinett Wilhelm Hoegners eingeschlossen.

Die eingangs gestellte Frage nach einem bayerischen Sonderweg hat der Autor in diesem Kapitel implizit verneint: einen solchen habe es bis 1954 nicht gegeben. Die bayerische Regierung habe sich weder besonders für die Sudetendeutschen eingesetzt noch den außenpolitischen Kurs der inzwischen dominant gewordenen Sudetendeutschen Landsmannschaft über ein allgemeines verbales Eintreten für das Selbstbestimmungs- und Heimatrecht unterstützt.

Als Ministerpräsident Ehard daher 1954 auf dem Sudetendeutschen Tag in München die Übernahme der Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen verkündete, war dies eine Überraschung. Franzen spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "rituelle[n] Diskursvorlage für die kommenden Jahrzehnte". Akribisch arbeitet der Autor die Kennzeichen dieses speziellen und in Deutschland zumindest begrifflich einzigartigen Konstrukts heraus. Die Ziele und Vorstellungen auf staatlicher Seite wie diejenigen der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die sich immer mehr als alleinige Vertretung ihrer Volksgruppe zu installieren versuchte, werden ebenso beleuchtet wie die NS-Vergangenheit wichtiger Funktionäre.

Den Widerspruch zwischen der politischen Schirmherrschaft und dem in der Mitte der 1960er Jahre als weitgehend abgeschlossen betrachteten Integrationsprozess löst Franzen durch die Rückführung des Argumentationsfadens auf die erinnerungspolitische Ebene auf: mit der Schirmherrschaft und den diversen sudetendeutschen Einrichtungen sei der Grundstein gelegt worden, um den Sudetendeutschen Eingang ins kulturelle Gedächtnis Bayerns und gleichzeitig die Bewahrung der kollektiven Identität zu ermöglichen. Nur so konnte die politische Forderung nach der "heimatpolitischen Existenzberechtigung" aufrechterhalten werden. Diesen außenpolitischen Bestrebungen - dies ist durch viele Zitate belegt - wurde allein in den Schirmherrschaftsreden der bayerischen Regierungsvertreter in rhetorisch festgelegten Floskeln Rechnung getragen. Relativ spät geht der Autor auf den Begriff "Stamm" ein, der den Sudetendeutschen eine ideale Identitätskonstruktion lieferte, die gleichermaßen Abgrenzung und Integration zuließ. Franzen kommt zu dem Ergebnis, es sei geradezu ein "sprachlicher Geniestreich", die Sudetendeutschen als den "vierten Stamm Bayerns" zu bezeichnen.

Mit dieser Studie hat K. Erik Franzen einen längst überfälligen Baustein zur Geschichte der Identitätsentwicklung Bayerns in der Nachkriegszeit geliefert. Bisweilen hätte man sich zur Vermeidung der häufigen Wiederholungen allerdings eine deutlichere Akzentuierung und das Verlassen der chronologischen Linie gewünscht, bleiben doch sowohl die Forderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft als auch die Antworten der bayerischen Regierung gerade in den 1960er Jahren weitgehend statisch. Ihre Stärke und Dynamik gewinnt die Arbeit in den analytischen Teilen. Hier gelingt Franzen nicht nur die Synthese der zahlreichen thematisch einschlägigen Einzelstudien, sondern aufgrund seiner methodisch differenzierten Vorgehensweise und der Auswertung unbeachteter Quellen auch die Schärfung bisher verschwommener Argumentationslinien und unklar eingesetzter Begriffe.

Die Konzentration auf die Schirmherrschaft in all ihren Facetten erlaubt den Blick hinter die Kulissen einer nach außen formelhaft präsentierten Beziehung, die aufgrund der bis heute nie aufgegebenen Forderungen nach Rückkehr und Heimatrecht als irreales Konstrukt entlarvt wird. Gleichsam als Antagonismus zur reflexhaften Vergangenheitsrhetorik des politischen Verhältnisses und deutlich realer erscheint die zukunftsweisende Komponente der erinnerungskulturellen und identitätsbildenden Aspekte. Diese Sichtweise ermöglicht aber auch einen neuen Diskurs über das wichtige Forschungsfeld von Gedächtnis und Generation.

Susanne Greiter