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Rezension von:
Maren Röger
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Maren Röger: Erinnerungsliteratur: Neue polnische Veröffentlichungen zur deutschen Besatzung (Rezension), in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/19354.html


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Erinnerungsliteratur: Neue polnische Veröffentlichungen zur deutschen Besatzung

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Auch mehr als 70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen verzeichnet der polnische Buchmarkt weiterhin Neuerscheinungen von Erinnerungsliteratur über die deutsche Besatzung. Dies geht Hand in Hand mit einer stärkeren Zuwendung zu Zeitzeugen und Egodokumenten wie Tagebüchern als Quellen in der polnischen Geschichtswissenschaft. Aufgrund der Subjektivität individueller Erinnerungen und der Instrumentalisierung von öffentlichen Gedenkwettbewerben zu Zeiten der polnischen Volksrepublik bewahrten Historiker hier lange Distanz. Während des Kommunismus initiierten die Machthaber zahlreiche Erinnerungswettbewerbe - beispielsweise zu den wiedergewonnenen Gebieten -, deren Ergebnisse allerdings zensiert wurden und hauptsächlich dazu dienten, die offiziell vorgegebene Lesart zu stützen. Davon abweichende Versionen wurden weitgehend marginalisiert.

Inzwischen entstehen in Polen vermehrt mikro- , mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Studien, die sich unter Anderem auf individuelle Zeugnisse wie niedergeschriebene Erinnerungen oder lebensgeschichtliche Interviews stützen. Darüber hinaus publizieren Institutionen der Geschichtsvermittlung Erinnerungsliteratur, die teilweise auf großen medialen Widerhall treffen. Dazu gehören die 2010 von Stiftung Ośrodek KARTA herausgegebenen Erinnerungen von Stefan Dąmbski, ehemaliger Angehöriger der polnischen militärischen Widerstandsorganisation Armia Krajowa (Heimatarmee). Das Buch mit dem durchaus marktschreierischen Titel "Henker" (im Original "Egzekutor") markiert den Beginn einer Publikationsreihe von KARTA, die sich den eindrücklichsten Zeugnissen des 20. Jahrhunderts widmen will, so die Eigenwerbung. Die Stiftung wurde bereits in den 1980er Jahren gegründet und hat sich seitdem erfolgreich dem Ziel verschrieben, die (während des Kommunismus) lange Zeit unterdrückten Alternativerinnerungen zu sammeln und durch Ausstellungs- und Publikationstätigkeiten die "weißen Flecken" des polnischen historischen Bewusstseins auszuleuchten. Im In- und Ausland hat KARTA ein enormes Renommee aufgebaut, weswegen Zeitzeugen oder deren Nachkommen der Institution niedergeschriebene Lebenserinnerungen anvertrauen.

Auch bei Dąmbski, der nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA emigrierte, war dies der Fall. In seinen Jahrzehnte nach dem Krieg verfassten Erinnerungen beschreibt er seine Zeit in der Armia Krajowa, wo er unter Anderem als Vollstrecker von Todesurteilen der Gerichtsbarkeit des polnischen Untergrunds im Gebiet Rzeszów wirkte. Dąmbski beschreibt in einfacher und eingängiger, aber nicht ermüdender Sprache, wie er bei seiner Arbeit als "Henker" abstumpfte, berichtet auch von einzelnen Fehlurteilen, und stellt die Frage, ob der Kampf des polnischen Untergrunds nicht zu viele Opfer gefordert habe. Auf einen auszugsweisen Abdruck in der Zeitschrift KARTA im Jahr 2006 gab es erwartungsgemäß zahlreiche kritische Zuschriften, die nicht zuletzt faktografische Fehler nachzuweisen suchten. Die Buchausgabe reagiert darauf sehr klug nicht nur mit dem Abdruck einiger Kritiken, sondern auch einer historischen Einordnung von Dąmbskis Erinnerungen. Den reißerischen Titel verzeiht man den Herausgebern darüber; zumal die finanziell prekäre Lage der Institution, die sich mit Spenden und auf Projektbasis finanziert, diese Aufmachung eventuell erklärt.

Von der mit am besten finanzierten polnischen Institution der Geschichtsvermittlung stammen weitere Erinnerungsbücher des Jahres 2010: dem Instytut Pamięci Narodowej (IPN), dem Institut des Nationalen Gedenkens. Das Institut, das sowohl Ermittlungen zu nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen durchführt als auch historische Grundlagenforschung betreibt sowie im Bereich der populärwissenschaftlichen Geschichtsvermittlung aktiv ist, publizierte beispielsweise unter dem Titel "Schnappschüsse aus der Vergangenheit" (im Original: "Migawki z przeszłości") Ergebnisse von zahlreichen lokalen Schülerprojekten. Sowohl Grund- als auch weiterführende Schulen waren daran beteiligt. Die Schüler selbst führten die Interviews unter dem Obertitel "Ich erzähle Dir vom freien Polen", und je nach Ausrichtung der Einzelprojekte in den Schulen ging es in ihnen um die Zeit nach 1989, die kommunistische Zeit, die unmittelbare Nachkriegszeit oder die Besatzungszeit. Leider sind aus den einzelnen Gesprächen immer nur kurze Fragmente abgedruckt, aber ihr Quellenwert beispielsweise für die Besatzungszeit wird trotzdem an einigen Stellen deutlich. Vor allem für alltagsgeschichtliche Fragestellungen - zum Beispiel Vergnügungen wie Kinobesuche während der Besatzung - scheint das hinter der Veröffentlichung stehende Konvolut an Gesprächen etwas zu bieten, und auch die regional weite Streuung der Aussagen ist von Interesse. Dazu kommt eine umfangreiche Bebilderung. Einen wissenschaftlichen Anspruch und Mehrwert hat das Buch indes nicht.

Einen anderen Charakter hat die IPN-Publikation mit dem Titel "Mein Großpolen" (im Original: "Moja Wielkopolska") aus der Feder Zdzisław Urbaniaks. Urbaniak, 1927 in einer Bauernfamilie in Brzostów in der Nähe der damaligen deutsch-polnischen Grenze geboren, beschreibt in der ca. 350 Seiten starken Veröffentlichung sein Leben in drei Kapiteln: 1933 bis 1942, 1942 bis 1945 und 1945 bis 1955. Der Quellenwert des teilweise etwas technokratisch formulierten und deshalb streckenweise ermüdenden Erinnerungsbuches ist auf mehreren Ebenen zu veranschlagen: Urbaniak gibt Einblicke in den Alltag auf dem Land hinsichtlich der Mentalitäten und der Arbeitswelt inklusive Beschreibungen von Gerätschaften, was für technikgeschichtliche Fragestellungen von Interesse sein mag. Bezogen auf die deutsche Okkupation sind vor allem die regionale Perspektive und seine Beschreibungen der Zwangsarbeit bei einem deutschen Bauern interessant, wenngleich einem ein bekanntes Narrativ begegnet. Urbaniaks Erinnerungen zeugen von einem brutalen Besatzungsregime mit deutlicher antislawischer Stoßrichtung. Ambivalente Personen kommen, obwohl Urbaniak unter Anderem das Zwangssystem der Deutschen Volksliste erwähnt, nicht vor.

Der Analyse von Erinnerungen widmet sich die einzige wissenschaftliche Studie in diesem Sample: "Furcht und Angst. Warschauer angesichts der Bedrohung. September 1939" (im Original: "Lęk i strach. Warszawiacy wobec zagrożeń. Września 1939 r.") von Joanna Urbanek. 2009 wurde das schmale Bändchen publiziert, das auf der Magisterarbeit der Verfasserin basiert - eine Seltenheit in Polen im Vergleich mit der Bundesrepublik, wo in den letzten Jahren zunehmend auch Magisterarbeitsergebnisse gedruckt werden. Ob die Studie dieser Ehre gerecht wird, bleibt zweifelhaft. In der Tat sind die Ergebnisse von Urbaneks mikrohistorischer Arbeit sehr interessant. Sie liefert, aufbauend auf Auswertungen von Tagebüchern, sowie ergänzend der Presse und vereinzelten Radioberichten, ein facettenreiches Bild der Gefühlswelten der Warschauer in den ersten Wochen des deutschen Angriffs. Zudem zeichnet sie die Bedeutung von Gerüchten für das Alltagsleben der Bewohner nach. Urbanek zeigt dabei keine im Widerstand vereinte Stadtgesellschaft, wie es in den heroisierenden Narrativen der offiziellen Erinnerungskultur oft verkürzt dargestellt wird. Vielmehr legt sie die vorherrschende Verunsicherung und auch die sich verschlechternden Beziehungen zwischen ethnischen und jüdischen Polen offen: Nach dem Einmarsch der Deutschen häuften sich in den von Urbanek untersuchten Tagebüchern gegenseitige Verdächtigungen der Kollaboration. So interessant die Ergebnisse auch sind, für die sehr kleinteilige Darstellung und Argumentation - zum Teil wohl auch den Anforderungen an eine Qualifikationsarbeit geschuldet - braucht der Leser einen langen Atem. Der empirischen Substanz wäre eine komprimierte Aufsatzfassung angemessener gewesen.

Insgesamt belegen die vier Bücher ein anhaltendes Interesse an den subjektiven Perspektiven auf den Krieg und die deutsche Besatzung in Polen. Im deutschen Sprachraum findet dieses allerdings wenig Widerhall.

Maren Röger