Rezension über:

Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 285 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30015-2, EUR 24,95
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Rezension von:
Alice Bolterauer
Institut für Germanistik, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Alice Bolterauer: Rezension von: Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/18464.html


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Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb

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"Alle literarischen Werke, sofern sie den Weg zu Lesern finden, bewirken Veränderungen - zunächst nur im Bewusstsein einzelner Leser oder Lesergruppen, möglicherweise darüber hinaus mit Auswirkungen auf die soziokulturelle Praxis von Individuen oder sozialen Gruppen und ihre Diskursformationen." (225) Was Dietmar Rieger, Professor für romanische Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, an den Beginn seines Beitrags über die Wechselbeziehungen zwischen den Texten der Existentialisten und dem Lebensgefühl von Saint-Germain-des-Prés stellt: das Faktum von Interdependenzen, ziemlich zwanglosen und oft selbstverständlichen, ist dem Herausgeber des Sammelbandes eigentlich zu wenig. Nicht Werke, die für das Selbstverständnis einer Generation oder einer Epoche wichtig gewesen sind, oder solche, die ihren Eigenwert und ihre allgemeine Bedeutung über die Jahrhunderte bewiesen haben, sollen hier besprochen werden, sondern es soll um "geschichtswirksame" Literatur gehen, um literarische Texte mithin, die "für politische, soziale, rechtliche oder kulturelle Veränderungen ursächlich" (10) waren.

Auf nicht allzu viele Werke trifft dieser Befund zu. Der Sammelband, der von Dirk van Laak herausgegeben wurde, bringt eine kleine Auswahl. Sie reicht von den Versepen Lord Byrons über "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe bis zu "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque, sie umfasst den Roman "Heart of Darkness" von Joseph Conrad ebenso wie die "Moabiter Hefte" von Musa Dschälil oder Thomas Bernhards "Heldenplatz". Als Untersuchungszeitraum wurden das 19. und 20. Jahrhundert gewählt, Lord Byron steht am Beginn, Salman Rushdie am Ende. Die Verfasser und die einzige Verfasserin sind allesamt der Gießener Justus-Liebig-Universität verbunden, wo sie tätig waren oder sind. Erprobt wurden die Beiträge erstmals im Rahmen einer Vortragsreihe des Zentrums für Medien und Interaktivität in Gießen.

Spannend ist der Band insofern, als er auf Entdeckungsreisen mitnimmt, an längst vergangene oder auch abwegige Lektüren erinnert oder auch Lust auf immer wieder aufgeschobene Lektüren macht. Dazu gehört zum Beispiel der Roman "Die Waffen nieder!" der österreichischen Autorin Bertha von Suttner (Beitrag von Anne C. Nagel), für den sie nicht nur den Friedensnobelpreis erhalten hat, sondern der auch untrennbar mit der Geschichte und vor allem mit dem Aufschwung der Friedensbewegung um 1900 verbunden ist. Dass 1892 eine erste deutsche Friedensgesellschaft gegründet werden konnte, dass Friedenkonferenzen mit internationaler Beteiligung veranstaltet werden konnten, das alles verdankte sich - auch - dem unermüdlichen Einsatz Bertha von Suttners und der Popularität ihres Romans.

Als noch wirkmächtiger hat sich der Roman "Altneuland" von Theodor Herzl (Beitrag von Sascha Feuchert) erwiesen, der nicht nur die Idee eines prosperierenden Staates Israel entworfen und propagiert, sondern dies auch utopisch-konkret in die Wege geleitet hat. Dass der Gründungsakt des Staates Israel unter dem Porträt von Theodor Herzl vollzogen wurde und die Stadt Tel Aviv ihren Namen der hebräischen Übersetzung des Herzl-Romans verdankt, sind seltene Beweise tatsächlicher politischer Wirkung von Literatur.

Ambivalenter als die prinzipiell lobenswerte Reminiszenz beachtenswerter Literatur ist in dem vorliegenden Band die starke Fokussierung auf biographische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte. So sehr ein solches Vorgehen legitim, ja sogar angesichts der Diversität der besprochenen Literaturen und Kulturen notwendig erscheint, so bedauerlich ist doch auch das oftmalige Fehlen einer literaturwissenschaftlichen Analyse, die zwar im beschriebenen historischen Kontext als vernachlässigbar gelten mag, aber eben doch wesentliche Aspekte eines literarischen Textes ausblendet.

Auch die Kriterien für politisch-historische "Wirkmächtigkeit" scheinen ab und zu ein wenig diffus, wie allerdings bereits im Vorwort eingestanden wird. Während nämlich die "ursächliche" politische Veränderungs- und Wirkungskraft von Texten wie "Altneuland" oder "Die Waffen nieder!" unbestreitbar und klar zu sein scheint, handelt es sich bei Texten wie "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe (Beitrag von Friedrich Lenger) oder "Max Havelaar" von Multatuli (Beitrag von Erwin Leibfried) eher um Einflussnahmen auf gängige Diskurse, die vielleicht unter anderem auch zur Kritik an Sklaverei und Kolonialismus und à la longue zu deren Ende beigetragen, kaum aber wirklich konkrete Gesetzesänderungen bewirkt haben. Für noch problematischer halte ich dies bei den völkisch-rassistischen Romanen (Beiträge von Volker Roelcke und Vadim Oswalt), die wohl viel gelesen und Bestseller gewesen sein mögen, bei denen aber doch kaum von einem konkreten politischen Einfluss die Rede sein kann.

Noch ein letztes Wort zur behaupteten Nähe zwischen Geschichte und Literatur, der im Vorwort des Herausgebers anhand verschiedener Überlegungen und Traditionen nachgegangen wird, die allesamt sicherlich richtig sind, aber doch - so denke ich - die Realität ausdifferenzierter Systeme nicht genügend berücksichtigen. Anstatt die vielen und großen Ähnlichkeiten zwischen Literatur und Geschichte zu betonen, würde ich lieber von Anleihen sprechen, die - selbstverständlich und immer und überall - die verschiedenen Systeme beieinander nehmen, ohne doch die jeweiligen Systemzugehörigkeiten in Frage zu stellen. Mit einem solchen Theoriekonzept verstünde es sich von selbst, dass Tatsachen der geschichtlichen Realität auch für die Literatur von Interesse sind, wie umgekehrt auch Sachverhalte der Literatur von der Geschichte in Anspruch genommen werden können. Was, welche Texte das im Konkreten dann jeweils sind, hängt von den Gegebenheiten und Prozessen der Gesellschaft ab, weniger von den künstlerisch-literarischen Qualitäten. Das würde dann auch besser erklären, warum das im einen Fall so atemberaubende Texte sein können wie jene von Thomas Bernhard und Salman Rushdie und ein anderes Mal so erbärmliche wie die von Artur Dinter und Hans Grimm.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen gebührt dem Band das große Verdienst, eine längst ausstehende "vergleichende Übersicht zu 'schöner' Literatur, die 'geschichtsmächtig' wurde", (9) zu bieten. Es ist zudem ein Band, der eine Fülle interessanter Details liefert, auch eher unbekannte Texte bzw. Autoren vorstellt und die Literaturwissenschaftlerin glücklich macht, indem er sie darin bestärkt, dass auch literarische Texte "erfolgreich" weiterwirken können.

Alice Bolterauer