Rezension über:

Wolfgang Hardtwig / Philipp Müller (Hgg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800-1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 314 S., ISBN 978-3-525-30007-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Matthias Middell
Global and European Studies Institut, Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Middell: Rezension von: Wolfgang Hardtwig / Philipp Müller (Hgg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800-1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/18474.html


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Wolfgang Hardtwig / Philipp Müller (Hgg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte

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Der Titel dieses Bandes, der aus einer Berliner Konferenz 2008 anlässlich des 200. Geburtstages Johann Gustav Droysens hervorgegangen ist, könnte nicht besser gewählt sein. Die universalhistorischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts, die hier vorgestellt werden, gehören ins Traditionskabinett der heutigen Befassung mit Weltgeschichte. Wie Michael Geyer und Charles Bright pointiert festgehalten haben, versuchten Philosophen (und man kann mit Blick auf diesen Band leicht ergänzen: Neuzeit- und Altertumshistoriker, Nationalökonomen, Kunsthistoriker, Theologen und Geographen) die Einheit der Welt mit der Kraft des Gedanken herzustellen, während gleichzeitig Entdecker, Arbeitsmigranten, Händler, Reporter, Börsenspekulanten, Militärs u.v.a.m. diese Einheit durch ihre alltäglichen Handlungen gewebt haben ohne dies immer auf einen prägnanten Begriff zu bringen. Ideenhistoriker haben sich lange auf die Rekonstruktion der imponierenden Leistungen der ersten Gruppe konzentriert und sich dabei zumeist auf ein europäisches Erbe kapriziert, während in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die empirische Analyse von Verfechtungen neue Inspiration gewonnen hat - einer der Gründe für die Unterscheidung zwischen Globalgeschichte neueren Zuschnitts und Universalgeschichte älterer Machart.

Der Anspruch, die "Totalität des realen Lebens" dadurch zu erfassen, dass die irrelevanten Fakten ausgesondert, und das Einheitsstiftende durch Begriffsprägungen herausgestellt werden (Simmel, zit. 9), hat sich als perspektivenabhängiges Projekt herausgestellt, dem man heute nicht mehr in eurozentrischer Naivität folgen sollte. Stattdessen hat Weltgeschichte eine neue Karriere als intellektuelle Initiation in die tendenziell zunehmende globale Multipolarität der Gegenwart gestartet. Entsprechend lässt sich die Einheit der Welt nicht mehr von einem einzigen Punkt her denken ohne die materielle und geistige Unterdrückung oder Ausblendung anderer mit zu reflektieren. Allerdings hatte es die deutsche Universität lange Zeit vermocht, diese Spannung zu verbergen. Und dies in einem dreifachen Sinne: indem erstens aus der Befassung mit Geschichte das Interesse an Afrika, Asien und den Amerikas weitgehend ausgeblendet wurde und damit in den Weltgeschichten des 19. und auch des 20. Jahrhunderts nur am Rande vorkam; indem sie zweitens die Befassung mit nichteuropäischen Geschichten in die Indologie, Sinologie, Japanologie oder Afrikanistik institutionell auslagerte. Eine dritte "Schutzschicht" zogen sozialwissenschaftliche Theorien ein, die die räumliche Distanz von Europa in die Vorstellung von einem Entwicklungsgefälle übersetzten.

Jüngere globalgeschichtliche Entwürfe wie etwa Christopher Baylys "Birth of the Modern World" haben bei allem Lob für das Bemühen um eine Überwindung dieser (Selbst-)Beschränkung auch Kritik erfahren, weil sie nicht konsequent genug das Problem angegangen seien, dass auch eine polyzentrische Weltgeschichte auf Begriffe und Kategorien der Historisierung der Welt zurückgreift, die Produkte des 19. Jahrhunderts sind und von der europäischen Suprematie infiziert waren. [1] Ist dies schon Grund genug, sich den weltgeschichtlichen Entwürfen des 19. Jahrhunderts erneut zuzuwenden? Die Herausgeber des vorliegenden Bandes weisen zur Begründung zumindest darauf hin, dass die neu errichtete chinesische Mauer zwischen heutiger Globalgeschichte und früheren universalgeschichtlichen Bemühungen fragwürdig ist, auch wenn sie sich sofort gegen den Vorwurf nostalgischer Wiederbelebung mit dem Hinweis immunisieren, es ginge darum durch Distanzierung eine höhere Stufe der Reflexivität zu erreichen. Ein solches Programm der umfassenden Historisierung weltgeschichtlicher Vorstellungen und Konstruktionsleistungen als Bestandteil einer Globalgeschichte erscheint eine reizvolle Aufgabe. Allerdings sollte sie nach Meinung des Rezensenten mehr umfassen als die erneute Lektüre der Bücher, die früher einem bildungsbürgerlichen Publikum Orientierungshilfe in der vor ihren Augen ablaufenden Globalisierung bieten sollten. Es käme eben darauf an, die Bedingungen dieser Neugier zu ermitteln - wie organisierten unsere Vorgänger Beobachtung und daraus resultierendes Wissen, wie setzten sie dieses Wissen ein und welche Folgen hatte dieser Einsatz? Der Schritt von der Ideen- zur intellectual history führt über die Bücher hinaus zu den Institutionen, zu den Lesern, zu den gesellschaftlichen Zwecken und Kontexten weltgeschichtlichen Denkens.

So sollte ein Band über das universalhistorische Denken in einer aufsteigenden Metropole des Westens, wie es Berlin in einem hier bis 1933 verlängerten 19. Jahrhundert wurde, nicht ohne Bezüge zu Weltwirtschaft, Kolonialismus, zur Kultur des Imperialismus oder zu den sozialen Spannungen der sog. Massengesellschaft auskommen. Die Herausgeber haben sich dagegen für eine engere Fassung des Problems entschieden und konzentrieren sich ganz auf die Berliner Universität und ihre Lehrstuhlinhaber. Es gibt deshalb auch keinen Beitrag zu Karl Marx, obwohl der sich bekanntlich in Berlin der Promotion widmete und eine Habilitation zumindest plante. Dass er weltgeschichtliche Ambitionen hegte, bestreiten auch Hardtwig und Müller in ihrer Einleitung keineswegs, "aber hier wäre der Bezug auf den disziplinären und institutionellen Rahmen gesprengt worden." (17) Auch Alexander von Humboldt, den insbesondere die Area Studies (bis hin zur Romanistik auf dem Weg zu den entfernteren Ufern einer neuen Romania) als Stammvater verehren, findet wegen seines Privatgelehrtendaseins keine Aufnahme in einen Band, der eher die Grenzen von Fakultät und Institut respektiert als den Horizont des Problems abzuschreiten. Dagegen werden neben den Philosophen Fichte und Hegel auch der Kunsthistoriker Franz Kugler, der Geograph Carl Ritter, der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und der Nationalökonom Werner Sombart neben Droysen, Leopold von Ranke, Hans Delbrück, Eduard Meyer, Dietrich Schäfer, Otto Hintze und dem lange Zeit als Außenseiter gehandelten Kurt Breysig in den gut dokumentierten und durchweg gründlich recherchierten Aufsätzen behandelt.

Der Schwerpunkt liegt damit auf den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, denn hier habe sich Deutschlands Übergang zur Weltpolitik wissenschaftsgeschichtlich in einer Konjunktur von Weltgeschichten niedergeschlagen, "gerade ... in Berlin um 1900" (18.) Dies ist freilich einerseits neu, denn die Berliner taten sich in der Bekämpfung einer neuen universalhistorischen Sicht, wie sie etwa Lamprecht in Leipzig, die Hamburger kolonialwissenschaftlichen Institute oder das Institut für Weltwirtschaft in Kiel zu entwickeln suchten, durchaus unrühmlich hervor, wie noch auf dem Internationalen Historikerkongress 1908 zu beobachten war. Andererseits ist diese These plausibel, wenn man sich die Forderungen der Ministerialbürokratie vor Ort (Althoff) nach gründlicher Befassung mit Weltgeschichte vor Augen hält, der etwa Delbrück mit einem viersemestrigen Zyklus nachkam, oder den raschen institutionellen Ausbau der Afrika- und Asienstudien in Berlin vergegenwärtigt. Weltgeschichte hat nicht unwesentlich mit der Nachfrage unter den Eliten ambitionierter Weltmächte zu tun - dies bestätigt auch der aktuelle Blick auf den Vorsprung der USA im Feld der Globalgeschichte, und umgekehrt könnte man folgern, dass der Niedergang des Fachgebietes mit dem Desinteresse politischer Eliten an Wissen über globale Zusammenhänge zu tun hat. Dies heißt nun keineswegs, dass alle Welthistoriker Hoflieferanten von Herrschaftswissen sind, vielmehr regt die wirtschaftliche, kulturelle, militärische und politische Verstrickung in die Weltaffären den Wissenshunger in allen politischen Lagern, auch bei distanziert auf den Parteienstreit schauenden Intellektuellen an.

Dass allerdings dieser Zusammenhang ab 1933 nicht mehr wirksam gewesen sein soll, überrascht. Kamen die Weltherrschaftspläne der Nationalsozialisten tatsächlich ohne Weltgeschichte aus? Jene politisch liberale und methodisch eher konservative Perspektive, die Walter Goetz der Propyläen-Weltgeschichte noch Anfang der 1930er Jahre zu geben suchte, war tatsächlich nicht wohl gelitten, und der Neuentwurf, den Willy Andreas und andere im gleichen Format versuchten, blieb bald stecken. Aber an ihre Stelle traten Raumforschung, Rassenkunde und Auslandswissenschaften, die anderes produzierten als die für ein breites Publikum geschriebenen Weltgeschichten des späten 19. Jahrhunderts, aber nichtsdestotrotz eine Befassung mit weltpolitischen Zusammenhängen in historischer Herleitung darstellten.

Auch die Zeit nach 1945 war nicht eben von Zurückhaltung gegenüber holistischen Geschichtsvorstellungen geprägt. Bemerkenswerte Weltgeschichten in Buchform wurden in der DDR wiederum an anderen Orten als Berlin produziert, aber das Historische Institut als Ganzes näherte sich gerade in seiner Lehrpraxis nach 1960 dem Ideal einer kollektiven Repräsentation der gesamten Geschichte als weltgeschichtlicher Zusammenhang mit eindeutigem Ziel an. Eine politische Entsprechung hatte dies allerdings kaum, denn über das Schicksal der Weltrevolution wurde eingestandenermaßen andernorts entschieden. Deshalb erschien die historische Aneignung der deutschen Geschichte (nebst Reiterstandbild Friedrich II. gegenüber der Universität) als vordringliches Ziel, dem allerdings periodisch ein Interesse an allgemeiner Geschichte eingeflochten wurde, denn ohne allgemeine Geschichtsgesetze keine Legitimität des ostdeutschen (Teil-)Staates.

Die Ausblendung der Zeit nach 1933 zeigt ex negativo, wo der Band den gemeinsamen Fluchtpunkt aller Autoren sieht: in der kompositorischen Durchgestaltung einer weltgeschichtlichen Darstellung und in der intellektuellen Erzwingung der Einheit der Welt durch ihre aus einer Feder stammenden Beschreibung. Diese Anstrengungen nötigen bis heute Ehrfurcht vor dem Umfang der Aufgabe und der Gewalt des Ehrgeizes ab, sie verdienen zugleich kritisch in die Entwicklung der Weltgeschichtsschreibung eingeordnet zu werden, die sich kaum auf diese publizistischen Höhepunkte reduzieren lässt.


Anmerkung:

[1] H. Sutherland, The Problematic Authority of (World) History, in: Journal of World History 18 (2007), 491-522.

Matthias Middell