Rezension über:

Hans Pleschinski (Hg.): Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ, München: C.H.Beck 2011, 428 S., 24 Abb., ISBN 978-3-406-62170-3, EUR 24,95
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Rezension von:
Jürgen Müller
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Torsten Riotte
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Müller: Rezension von: Hans Pleschinski (Hg.): Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/20234.html


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Hans Pleschinski (Hg.): Nie war es herrlicher zu leben

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Der Titel des Werkes ist geeignet, zwei Erwartungen zu wecken: Zum einen vermittelt das wörtliche Zitat aus den Aufzeichnungen des Herzogs von Croÿ den Eindruck, als beziehe es sich auf die gesamte Lebensspanne dieses hochadligen Offiziers und Höflings und sei überdies eine treffende Charakterisierung zumindest der adligen Lebensverhältnisse im Frankreich des 18. Jahrhunderts, einer Zeit, über die der langjährige französische Außenminister Charles Maurice de Talleyrand (1754-1838) im Rückblick gesagt haben soll: "Wer das Ancien Régime nicht kannte, wird niemals wissen können, wie süß das Leben war." Zum anderen scheint die Formulierung "Das geheime Tagebuch" bisher unbekannte Offenbarungen aus den inneren Kreisen der Macht zu versprechen, Einblicke in Verhältnisse also, die bislang dem forschenden Blick der Historiker entzogen waren und nun - über zweihundert Jahre nach dem unrühmlichen Ende jener "herrlichen" Epoche - neue Einsichten in die soziale und politische Realität hinter den prachtvollen Kulissen der französischen Monarchie zu gewähren. Beide Annahmen würden in die Irre führen: Die Formulierung "nie war es herrlicher zu leben" bezieht sich auf einen prächtigen Sonnenaufgang in Paris, als der Autor nach mehrtägigen Gichtschmerzen, Fieberanfällen und heftigen Koliken in der Morgenfrühe erwacht (176). Und "geheim" war das Tagebuch des Herzogs von Croÿ nur in dem Sinne, wie es die meisten persönlichen Aufzeichnungen oder Journale sind, nämlich als nicht a priori zur Veröffentlichung bestimmte Notizen, mit denen der Herzog von Croÿ, wie er selbst sagt, kein anderes Ziel verfolgte, "als aufzuschreiben, was mir zustieß, um mich an alles und wie es mich mehr oder minder betraf, zu erinnern, sowie meine Entwicklung zu beobachten" (19). Die Aufzeichnungen des Herzogs, mit denen er 1737 begann und die er bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1784 fortführte, sind schließlich auch keine Neuentdeckung, denn schon im Jahr 1906/07 erschien eine vierbändige Auswahl des französischen Originals unter dem Titel "Journal inédit" - unveröffentlichtes Tagebuch.[1]

Die nun von Hans Pleschinski aus den französischen Originalhandschriften hervorragend übersetzte deutsche Auswahlausgabe umfasst etwa ein Viertel der gesamten Aufzeichnungen (Editorische Notiz, 416) und enthält die in der französischen Edition nicht enthaltenen Passagen über die Reise des Herzogs durch Deutschland in den Jahren 1742/43 (28-60), wobei er unter anderem an der Kaiserwahl und -krönung in Frankfurt 1742 teilnahm.

Die Aufzeichnungen des Herzogs von Croÿ liefern keine umstürzend neuen Erkenntnisse über das adlige und höfische Leben im Frankreich Ludwigs XV. und XVI., aber sie zeichnen ein plastisches, von selbstkritischen Einsichten, ja teilweise sogar von Ekel über die Bedingungen und Mechanismen adligen Strebens nach Gunst und Promotion durchsetztes Bild der politischen Elite in Frankreich. Weder das individuelle Leben des Autors noch die gesellschaftliche Existenz seiner Standesgenossen sind eine einzige Abfolge von Vergnügungen, sondern das Leben der französischen Adligen wird neben dem Luxus und allen erdenklichen materiellen und kulturellen Annehmlichkeiten mindestens ebenso sehr geprägt von ehrgeizigen Konkurrenzkämpfen um die Gunst des Königs und seiner Mätressen, von Intrigen, Frustrationen und teilweise auch Demütigungen.

Vergleicht man die Aufzeichnungen des Herzogs von Croÿ mit den Tagebüchern von Samuel Pepys (1633-1703), dem englischen Politiker und Parlamentsabgeordneten, der zwei Generationen vor Croÿ lebte und schrieb, so fällt auf, dass Letzterer im Gegensatz zum englischen Chronisten die Lebensverhältnisse und den Alltag außerhalb der Adelsschicht fast vollkommen ignoriert. Die Welt des französischen Herzogs ist begrenzt auf den eigenen privilegierten Stand, das Hofleben in Versailles, seine Erlebnisse als Offizier, auf Festmähler, Bälle und Jagden, Mätressen und Minister. Der Dritte Stand taucht kaum auf, das Volk betritt als Akteur nur einmal kurz die Szene, nämlich mit den Hungerunruhen im Jahr 1775, dem Todesjahr des von Croÿ überaus positiv skizzierten Königs Ludwig XV. Niemals, so Croÿ, ging es Frankreich besser, als zu dessen Regierungszeit (281). Mit dem Regierungsantritt Ludwigs XVI. geriet der Staat plötzlich "in die größte Krise mit unbekanntem Ausgang" (287), die eingeleiteten Reformen verschlimmerten aus der Sicht des Chronisten die Lage, anstatt sie zu verbessern. Immerhin musste der Herzog von Croÿ den Untergang des Ancien Régime nicht mehr miterleben, denn er starb 1784, wenige Jahre vor Ausbruch der Revolution. Aber er notierte in den letzten Jahren seines Lebens die krisenhaften Entwicklungen und auch die Ausweglosigkeit der Situation: Das "übertriebene Sparen" unter dem neuen Finanzminister Necker führte nicht zur Gesundung des Staatsetats, sondern zog "ein allseitiges Schrumpfen" nach sich und minderte die Größe Frankreichs (384).

Während das Bild der politischen Entwicklungen sich immer mehr eintrübte, beobachtete der Herzog die technischen Neuerungen mit großer Begeisterung. Er schildert die Bestrebungen zu einer zentralen Wasserversorgung von Paris und die Pläne für Pumpstationen mit großen Dampfmaschinen (382); und geradezu enthusiastisch verfolgt er die ersten Ballonflüge der Gebrüder Montgolfier im Jahr 1783: "Zum ersten Mal erhoben sich zwei, drei Menschen nach Belieben in die Lüfte, was bis dahin völlig undenkbar gewesen war!" (398).

Die besondere Faszination der Aufzeichnungen des Herzogs von Croÿ beruht darauf, dass er ein halbes Jahrhundert lang im engsten Kontakt mit den höchsten Kreisen Frankreichs stand, mit dem König, seinen Ministern, den diversen Mätressen, dem Hochadel. Er verkehrte überdies mit ausländischen Gesandten wie Benjamin Franklin und Monarchen wie etwa Kaiser Joseph II. Nur wenige Personen, die Zugang zum innersten Kern der Macht hatten, haben derart ausführliche, anschauliche und detaillierte Schilderungen über die persönlichen Beziehungen und die privaten wie politischen Vorgänge im Mikrokosmos der Hofgesellschaft hinterlassen. Der Herzog von Croÿ gewährt uns in seinen Tagebuchaufzeichnungen einen Einblick in sein privates wie öffentliches Leben und Streben als Angehöriger der sozialen und politischen Elite Frankreichs, und er ermöglicht es, einen Blick hinter die Kulissen von Versailles auf die maßgeblichen Akteure und Aktricen des Hofes zu werfen. Das Vergnügen an der Lektüre des Buches wird zusätzlich erhöht durch die gediegene Ausstattung, zu der eine Reihe von Abbildungen, darunter zwei prächtige Farbdrucke im Vor- und Nachsatzblatt, beitragen.


Anmerkung:

[1] Journal inédit du duc de Croÿ (1718-1784), publié, d'après le manuscrit autographe conservé à la Bibliothèque de l'Institut, avec introduction, notes et index par le Vicomte de Grouchy et Paul Cottin. 4 Vols., Paris 1906-1907.

Jürgen Müller