Rezension über:

Friedhelm Boll / Krzysztof Ruchniewicz (Hgg.): Nie mehr eine Politik über Polen hinweg. Willy Brandt und Polen (= Willy-Brandt-Studien; Bd. 4), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, 336 S., ISBN 978-3-8012-0407-5, EUR 32,00
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Rezension von:
Ingo Loose
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Ingo Loose: Rezension von: Friedhelm Boll / Krzysztof Ruchniewicz (Hgg.): Nie mehr eine Politik über Polen hinweg. Willy Brandt und Polen, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/19522.html


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Friedhelm Boll / Krzysztof Ruchniewicz (Hgg.): Nie mehr eine Politik über Polen hinweg

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Eine ganz besondere Rolle in Willy Brandts Ostpolitik spielte in den 1960er und 1970er Jahren zweifellos die Volksrepublik Polen. Polen war das zweitgrößte Land des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und im Zweiten Weltkrieg wie kein zweiter Staat von den Nationalsozialisten devastiert worden. Daneben beherbergte die Volksrepublik jedoch auch noch eine nicht unbedeutende deutsche Minderheit. Schließlich hatten die Friedensbitte der polnischen Bischöfe Mitte der 1960er Jahre und andere Initiativen ein Signal gesetzt, das die Politik nicht mehr ignorieren konnte und das Brandt auch dezidiert nicht ignorieren wollte. Ihm wurde klar, dass eine Politik in Europa trotz der Blockkonfrontation und der dominierenden Rolle der Sowjetunion "nie mehr eine Politik über Polen hinweg" sein dürfe.

Die Aufsatzsammlung über das Thema "Willy Brandt und Polen" versucht, die Facettenvielfalt der deutsch-polnischen Beziehungen jener Jahre durch eine Reihe ausgewiesener Experten auszuleuchten. Hervorgegangen ist der Band aus einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Wrocław im Juni 2007, und er dokumentiert erfreulicherweise nicht nur die (ausgearbeiteten) Beiträge, sondern darüber hinaus auch die abschließende Podiumsdiskussion "Die deutsche Einheit - ein Schreckgespenst für Polen?". Die versammelten Beiträge selbst sind allesamt auf die politischen Kontexte von Brandts Handeln zunächst als Außenminister, später als Bundeskanzler sowie in den 1980er Jahren als SPD-Vorsitzender (bis 1987) und Vorsitzender der Sozialistischen Internationale (bis 1992) orientiert. Zwar werden hierbei ganz unterschiedliche Themenfelder in den Blick genommen, die durchaus nicht nur die Ost- bzw. Entspannungspolitik umfassen, sondern sehr wohl - namentlich in den Überblicksaufsätzen von Einhart Lorenz und Gottfried Niedhart - auch die Rolle und Ausgangsposition Brandts in der West- bzw. Europapolitik herausstellen. Der Brandt oft gemachte Vorwurf, er gefährde durch die Ostpolitik die Westintegration der Bundesrepublik, erweist sich in der Rückschau als unbegründet. Andere Felder jedoch, die durchaus auch über das Gelingen einer Entspannungspolitik, über den "Wandel durch Annäherung" entschieden, wie etwa die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen einerseits und den beiden deutschen Staaten andererseits, fehlen bedauerlicherweise. Dass in Polen der Wirtschaft neben dem Erreichen der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde, scheint immerhin in dem Beitrag von Krzysztof Ruchniewicz über das "Problem der Entschädigung der polnischen NS-Opfer" (97) und andernorts en passant auf, aber namentlich die kreditfinanzierte (und zunehmend defizitäre) Ära Gierek hätte ein wenig mehr Platz verdient. Wie sehr politisches Handeln durch außerpolitische Faktoren und nicht zuletzt durch die Menschen in Polen und Deutschland begrenzt war, kommt leider etwas zu kurz.

Hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang jedoch der Beitrag von Dominik Pick über die "gesellschaftliche Dimension der westdeutsch-polnischen Beziehungen" (183), der anhand der Kulturbeziehungen, des Reiseverkehrs, des Jugendaustauschs sowie der Städtepartnerschaften einen empirisch breit fundierten Eindruck von der Vielfalt bilateraler Kontakte jenseits der "großen Politik" während der neuen Ostpolitik liefern kann.

Die Aufsätze, die sich explizit mit der politischen Dimension der bi- bzw. trilateralen Entspannung selbst befassen, decken die unterschiedlichsten Fragestellungen ab. Deutlich wird dabei auch die Gemengelage, in der die bundesdeutsche Außenpolitik navigierte: Nicht zuletzt durch den Generationenwechsel, auf den vor allem Krzysztof Ruchniewicz in seinem Beitrag hinweist, aber auch durch den starken Impuls der katholischen Kirche in Polen deutete sich an, dass die Spielräume für Verhandlungen womöglich größer sein könnten, als zuvor angenommen. Kardinal Stefan Wyszyński soll Adam Krzemiński einmal gesagt haben, er habe die Versöhnung mit Deutschland zweimal bekommen. Einmal von den Protestanten und einmal von den Sozialdemokraten - beide Male von den Falschen. Demgegenüber standen die Chancen auf eine politische Verständigung mit der Volksrepublik zunächst einmal schlecht, denn sowohl Władysław Gomułka als auch die DDR-Führung waren gleichermaßen bemüht, Kontakte der Bundesrepublik mit anderen Ostblockstaaten zu unterbinden (vgl. die Beiträge von Gottfried Niedhart und Wanda Jarząbek).

Damit wird zugleich ein Aspekt thematisiert, der sich wie ein roter Faden durch den Band zieht, dass nämlich die sozialliberale Ostpolitik zwar Polen eine eigenständige Rolle beimaß, dass gleichwohl allen Beteiligten klar war, dass es sich bei den Beziehungen mit der Volksrepublik stets um eine Dreiecksbeziehung zwischen der Bundesrepublik, der DDR und Polen handelte. Burkhard Olschowsky verdeutlicht in seinem instruktiven Aufsatz das tiefe Misstrauen der Polen gegenüber der DDR, namentlich gegenüber der Klassenideologie der SED und ihrer "zwanghaften nationalen Abstinenz" (167). Ebenso befürchtete man (zu Unrecht), dass bei einer Einigung der deutschen Teilstaaten die Entwicklung dazu führen könnte, dass auch auf Seiten der DDR die Oder-Neiße-Grenze in Frage gestellt würde.

Alle Formen einer deutsch-polnischen Verständigung und Annäherung sollten zunächst und unabdingbar über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verlaufen. Das besondere Sicherheitsbedürfnis Polens stieß in der Sowjetunion auf Verwunderung, als sei man sich der sowjetischen Schutzmacht in Polen nicht mehr sicher. Allerdings hatte die bundesdeutsche Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze schon in den Jahren zuvor eine sichtbare Wirkung gezeitigt: In den vormals deutschen Gebieten blieb die Aufbauleistung hinter den realen Möglichkeiten zurück, weil viele der Auffassung waren, es lohne sich kein größerer Aufwand, wenn diese Gebiete womöglich in Zukunft an Deutschland zurückfielen. Die Grenzfrage war also die Fortsetzung eines tief greifenden Traumas, das man auf bundesdeutscher Seite mehr und mehr sah und dem historischen Kontext zuzuordnen bereit war: "Unserem Volk", so Brandt, "wird nicht heute aus heiterem Himmel ein Opfer abverlangt. Dies hat längst erbracht werden müssen als Ergebnis der Verbrechen Hitlers." (114)

Im Gegensatz zum Kenntnisstand über das deutsch-deutsch-polnische Dreiecksverhältnis bleibt die genaue Rolle der Sowjetunion etwas diffus, auch weil der Beitrag von Katarzyna Stokłosa, die unlängst eine Monographie zum Thema vorgelegt hat [1], auf einer nur schmalen Quellenbasis aufbaut. Freilich war und blieb die Sowjetunion auch dann, wenn man Polen eine Verhandlungsautonomie zutraute, die letzte Instanz, die für die Ostpolitik Brandts zugleich auch eine signifikante innenpolitische Dimension besaß. Andreas Grau kann in seinem Beitrag über die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die sozialliberale Ostpolitik zeigen, dass man einerseits eine "Verfestigung der Hegemonie der Sowjetunion und gleichzeitig eine Legitimation sowjetischer Gewaltpolitik" (13) - zumal nach der Niederschlagung des Prager Frühlings - befürchtete. Andererseits gab es auch eine Reihe von Politikern innerhalb der CDU/CSU-Fraktion, die von der Notwendigkeit einer Verständigung bzw. Aussöhnung mit Polen überzeugt waren, auch wenn für sie eine offizielle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nicht in Frage kam.

Kein Ereignis in den deutsch-polnischen Beziehungen dürfte bis 1989 so symbolträchtig gewesen sein wie der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand im Dezember 1970. Der Kniefall war Ausdruck eines veränderten historischen Bewusstseins: "Der Verweis auf die Beherrschung Osteuropas durch die Kommunisten hörte in den Augen der Bundesbürger auf, ein ausreichendes Argument für das Verschweigen des Verhaltens der Deutschen in jener Region während des Dritten Reiches zu sein." (107)

Bis heute werden die Gründe kontrovers diskutiert, die Brandt und die SPD seinerzeit zu ihrer reservierten Haltung gegenüber der Solidarność-Bewegung veranlassten. Im Dezember 1985 kulminierte diese Distanz, als Brandt während seines Polenbesuches einer Einladung Lech Wałęsas nach Danzig nicht folgte. Dies führte zu einer herben Enttäuschung der polnischen Opposition, die erst Jahre später langsam abgebaut werden konnte. Boll und Rother betonen hierzu jedoch, dass dies nur Brandts kontinuierlicher Ostpolitik der vorangegangenen Jahre entsprang (Reform von oben, nicht von unten), bei der er unter bewusster Einbeziehung der Parteiführung in Polen zehn Jahre früher erfolgreich gewesen war. Auch die Angst vor einem zweiten "Prager Frühling" spielte eine wichtige Rolle, denn es war ungeachtet der Wandlungen im Ostblock seit 1968 durchaus keine ausgemachte Sache, dass es in Polen nicht auch zu einer sowjetischen Intervention würde kommen können. Allerdings spielten auch subjektive Gründe hinein, etwa dass der katholisch geprägte Widerstand der Solidarność nicht Brandts Vorstellungen von Gewerkschaftswiderstand entsprochen haben mag. Tatsächlich war das Verhältnis zwischen der SPD und der Solidarność-Bewegung auf Jahre hinweg gestört.

Die Kritikpunkte fallen angesichts des hohen Informationswertes des Bandes nur an wenigen Stellen ins Gewicht. So hätte man sich verschiedentlich eine größere Sensibilität gewünscht, wo von Deutschland die Rede, aber die Bundesrepublik gemeint ist. Gewichtiger ist der Einwand, dass der Beitrag von Wanda Jarząbek faktisch der einzige ist, der eine genuin polnische Perspektive einnimmt, weshalb der polnische Partner jenseits der politischen Führungsschicht in der PVAP blass bleibt. Die Perzeption des KSZE-Prozesses in Polen wird ebenfalls weitgehend ignoriert. Die Frage nach der Eigen- und Selbstständigkeit Polens im Ostblock, trotz Blockbindung und Blockkonfrontation, ist aber letztlich auch für die Einordnung und Bewertung der Brandtschen Ostpolitik zentral. Dabei wäre insbesondere danach zu fragen, ob es die Rolle Brandts nicht unverhältnismäßig überhöht, wenn die polnischen Rezipienten und Partner nur als passive Empfänger erscheinen - hier scheint ein grundlegendes Aktenstudium noch am Anfang zu stehen.

Insgesamt ist der vorliegende Band eine reiche Quelle für die Vielfalt, die in den deutsch-polnischen Kontakten und der Brandtschen Ostpolitik lag. Dennoch bleiben Aspekte unbeachtet, Fragen offen; eine auch über die rein politische Dimension hinausgreifende Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte von den 1960er Jahren bis 1989 bleibt ein Desiderat.


Anmerkung:

[1] Katarzyna Stoklosa: Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990, Göttingen 2011. Vgl. dazu die Rezension von Hermann Wentker in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5

Ingo Loose