Rezension über:

Sascha Feuchert / Robert M. Kellner / Erwin Leibfried u.a. (Hgg.): Friedrich Kellner: »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2011, 1134 S., 104 Abb., geb., Schutzumschlag, Schuber, in 2 Bänden, ISBN 978-3-8353-0636-3, 59,90
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Rezension von:
Susanne Heim
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Heim: Rezension von: Sascha Feuchert / Robert M. Kellner / Erwin Leibfried u.a. (Hgg.): Friedrich Kellner: »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/20187.html


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Sascha Feuchert / Robert M. Kellner / Erwin Leibfried u.a. (Hgg.): Friedrich Kellner: »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«

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Das Tagebuch Friedrich Kellners beginnt mit regelmäßigen Aufzeichnungen im August 1939. Schon in den ersten Eintragungen wird deutlich, dass der Autor sich die Wut auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem und die Deutschen vom Leib schreibt. Immer wieder geißelt er die Verlogenheit der NS-Presse, die Unrechtmäßigkeit des deutschen Expansionskriegs und die Widersprüche zwischen großmäuligen Siegesankündigungen und kaschierten Niederlagen. Der felsenfeste Glaube seiner Mitmenschen an die Propagandalügen, ihr Siegestaumel und "unheilbarer Eroberungsfimmel" (178) sind ihm unbegreiflich. Mal ironisch, mal sarkastisch protokolliert er die Idiotie der Verdummungsmaschinerie, wie sie etwa in einem Kindergarten am Werk ist, in dem die Kleinen mit folgendem Vers dressiert werden: "Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken" (374).

Kellners Aufzeichnungen, die er den ganzen Krieg hindurch in zehn Notizheften festgehalten hat, werden oft mit dem Tagebuch Victor Klemperers verglichen - zu Recht. In Stil und Themenwahl so verschieden wie die Lebenssituation ihrer Autoren, erlauben beide Tagebücher einen Blick auf den Alltag in der Diktatur und den erfolgreichen Versuch, sich ihrem geistigen Gift durch den Rückzug in die eigene radikal oppositionelle Gedankenwelt zu entziehen.

1885 in Mainz in die Familie eines Bäckermeisters geboren, brachte Kellner es als einziges Kind und Stolz seiner Eltern zum Justizinspektor. 1913 heiratete er die Büroangestellte Pauline Preuß. Im Ersten Weltkrieg verwundet, wurde Kellner nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrung zum überzeugten Pazifisten. Seit Anfang der 1920er Jahre engagierte er sich in der SPD. Um seinen Sohn nicht länger den Einflüssen der NS-Propaganda auszusetzen, drängte er ihn schon Mitte der 1930er Jahre zur Emigration in die USA - und sah ihn erst nach Kriegsende wieder.

Die nationalsozialistische Propaganda und ihre verheerende Wirkung auf das Denken der allermeisten Deutschen sind das zentrale Thema in Kellners Tagebuch.

Sein zweites großes Thema ist die militärische Lage. Obwohl selbst Antimilitarist, verwendet er viel Energie darauf, Frontverläufe und Gefechtsstellungen zu analysieren. Dabei kritisiert er die "Welteroberungspläne deutscher Generäle" (173) ebenso vehement wie die Laschheit und militärische Unfähigkeit der westalliierten "Schlappsäcke" (528), die zu spät und nach Kellners Ansicht meist am falschen Ort die deutschen Truppen angriffen.

Neben den Zeitungsartikeln der "Nazi-Schreiberlein" (677), die - gegen den Strich gelesen - Kellners Hauptquelle bilden, interpretiert der Autor auch Todesanzeigen. Wenn häufig der "Heldentod für Führer und Volk" annonciert wird, ist ihm dies ein Indiz für die anhaltende Loyalität gegenüber dem Regime; aus den sich häufenden Trauerannoncen für Kleinkinder schließt Kellner auf die schlechte medizinische Versorgung im Krieg. Und wenn 18- oder 20-Jährige als Bataillons- oder Kompanieführer fallen, so erlaubt ihm dies Rückschlüsse auf den Zustand einer Armee, die über so wenig erfahrenes Führungspersonal verfügte, dass selbst Teenager zu Kommandanten ernannt wurden.

In nahezu allen Äußerungen von Arbeitskollegen oder Zufallsbekanntschaften, die er protokolliert, findet Kellner seine Einschätzung von der "Vernebelung aller Gehirne" bestätigt. Erst Monate nach der deutschen Niederlage in Stalingrad wurden die ersten verhaltenen Bedenken in seiner Umgebung laut. Auf Zweifel am Endsieg jedoch reagierte das Regime brutal: Immer mal wieder finden sich in den Notizheften unter den vielen eingeklebten Schlagzeilen und Zeitungsartikeln auch Kurzmeldungen über Hinrichtungen wegen "staatsfeindlicher Hetze". Und jedes Mal sind es nachträgliche Bekanntmachungen bereits vollstreckter Urteile.

Anders als die meisten Deutschen, die während des Krieges Tagebücher oder Briefe schrieben, äußert sich Friedrich Kellner auch unmissverständlich über die Judenverfolgung. Doch bei aller Anteilnahme am Schicksal der diskriminierten Minderheit bleiben seine Bemerkungen doch knapp und allgemein. Persönliche Freundschaften oder Bekanntschaften mit Juden hatte er offenbar nicht. Er notierte die rechtliche Diskriminierung der Juden (197f.) und sezierte das aggressive Vokabular, in dem die NS-Presse über sie schrieb. Ende Oktober 1941 erfuhr er von Massenerschießungen von Juden im besetzten Polen (191f.). Am 15. Dezember 1941 ist in seinem Tagebuch erstmals davon die Rede, dass die Juden "irgendwohin abtransportiert werden" und ihre Vernichtung der "größte Schandfleck auf der Ehre Deutschlands" (212) sei. Kellner wusste, dass die deportierten Juden "von SS-Formationen ermordet" (311) wurden. Aber ob er darüber informiert war, wo und wie das geschah, bleibt unklar. Weder von den Ghettos im besetzten Polen, noch von den Massakern der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, weder von Giftgasmorden noch von Vernichtungslagern ist in seinem Tagebuch die Rede.

Lange vor Kriegsende skizziert Kellner die Umrisse einer Entnazifizierung. Sie ist denn auch eines seiner wichtigsten Motive: Seine detaillierten Protokolle sollen dazu beitragen, dass "kein Handlanger dieses verruchten Nazisystems in der Zukunft irgend eine Rolle spielen" (204) kann. Doch obwohl Kellner selbst die Veröffentlichung des Tagebuchs wünschte, war dessen Existenz bis vor kurzem hierzulande völlig unbekannt und auch der 1970 verstorbene Verfasser selbst in seinem Heimatort Laubach so gut wie vergessen. Erst im Jahr 2005 ist es seinem in den USA lebenden Enkel Robert Scott Kellner gelungen, in einer Ausstellung in Texas auf die Hinterlassenschaft des aufrechten Großvaters aufmerksam zu machen. Die Mitarbeiter der Arbeitsstelle für Holocaustliteratur an der Universität Gießen, die daraufhin die Publikation vorbereiteten, haben bei ihren Recherchen schließlich sogar eines der insgesamt zehn Notizhefte Kellners, das jahrzehntelang als verloren galt, wiedergefunden.

Alle Hefte wurden schließlich mit großer Sorgfalt in zwei Bänden ediert, mit Faksimiles und Fotos aus dem Familienarchiv angereichert. Die Anmerkungen sind zwar bisweilen etwas ausschweifend, erleichtern jedoch insgesamt die Einordnung von Kellners Notizen. Zu vielen der erwähnten Personen sind aufschlussreiche biographische Angaben ergänzt worden. Umso bedauerlicher ist es, dass den Tagebüchern ein Personenregister ebenso fehlt wie Querverweise zu Erläuterungen, die anfangs vorkommen, aber Hunderte von Seiten später, wenn Kellner den gleichen Spezialbegriff nochmals verwendet, kaum noch auffindbar sind. Erschwert wird die Orientierung zudem durch das leserunfreundliche System der doppelten Anmerkungen - Fußnoten und Endnoten. Letztere befinden sich auch für den ersten Band der Tagebücher am Ende des zweiten Bandes.

Der lesenswerte Bericht von Robert Scott Kellner über seine Großeltern, die er erst als Erwachsener kennenlernte, die Familiengeschichte und die jahrelang vergeblichen Bemühungen, die Tagebücher zu publizieren, rundet die Edition ab. Die Arbeitsstelle für Holocaustliteratur hat damit nach der 2007 veröffentlichten Chronik des Ghettos Łódź/Litzmannstadt erneut ein für die Forschung wie für interessierte Leser äußerst wertvolles Mammutdokument ediert. Die Diskussion um die Frage, was die Deutschen vom Holocaust wussten und was sie hätten wissen können, wird dadurch auf eine neue Materialgrundlage gestellt.

Susanne Heim