Rezension über:

Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein 2011, 259 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-0835-0, EUR 19,90
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Rezension von:
Klaus-Jürgen Bremm
Historisches Seminar, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Klaus-Jürgen Bremm: Rezension von: Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/20829.html


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Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung

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Als 1883 der Major im Generalstab und spätere Reformer der Osmanischen Armee, Colmar von der Goltz, sein einflussreiches Werk Das Volk in Waffen veröffentlichte, löste er damit nicht nur in militärischen Kreisen eine heftige Debatte aus, doch an der wachsenden Militarisierung der europäischen Gesellschaften konnte schon damals kaum mehr Zweifel bestehen. Das Zeitalter der Millionenheere war angebrochen, nachdem Preußen im Krieg von 1870/71 konsequent seine Brigaden mit ausgebildeten Reservisten aufgefüllt hatte und ihm das unterlegene Frankreich darin mit seinen Wehrgesetzen rasch gefolgt war. Der damals in Blüte stehende Sozialdarwinismus forderte im angeblich existenziellen Wettstreit der Nationen notfalls deren gesamte Wehrkraft zu Kriegszwecken zu mobilisieren. Das dazu erforderliche umfassende demographische Material über Zahl und Zustand vornehmlich der männlichen Bevölkerung musste jedoch erst mühsam erschlossen werden. Vor allem die Dritte Republik mit ihren sinkenden Geburtenraten entwickelnde ein vitales Interesse an der Erfassung jedes wehrtauglichen Franzosen. So gingen die wichtigsten europäischen Mächte mit Ausnahme Großbritanniens, das vorerst an seiner Berufsarmee festhielt, nach den Einigungskriegen dazu über, paritätisch besetzte Musterungskommissionen zu bilden, die nicht nur die Wehrfähigkeit der männlichen Bevölkerung zu erfassen, sondern überhaupt erst allgemeine Kriterien zu entwickeln hatten, was man denn unter einem dienstfähigen Rekruten verstehen wollte. Zwar erbrachten die Bemühungen von Medizinern, Statistikern und Anthropologen trotz ihres kühnen Rückgriffs auf heute bizarr anmutende Kriterien wie etwa Augenfarbe, Kopf- oder Brustumfang keine einheitlichen Tauglichkeitsstandards. Auch schien es kaum möglich, selbst auf nationaler Ebene überhaupt einheitliche Standards der Erfassung von statistisch verwertbaren Daten durchzusetzen. Doch lösten die Protagonisten einer lückenlosen Erfassung und Ausschöpfung des Wehrpotentials einer Nation immerhin weitreichende Programme der Ertüchtigung aus, in denen die schon damals keineswegs homogenen europäischen Gesellschaften erstmals als so genannte Volkskörper unter dem Gesichtspunkt einer Optimierung zu militärischen Zwecken thematisiert wurden. Ambitionierte Projekte der körperlichen und moralischen Bildung waren vor allem in Deutschland die Folge, wo etwa wertkonservative Nationalisten die scheinbar degenerativen Wirkungen von Industrialisierung und Verstädterung fürchteten. In der Donaumonarchie wiederum beunruhigten die Militärbehörden das schwache Leistungsbild der dörflichen Bevölkerung in den Alpenregionen. Obwohl somit also in der Bewertung des Materials unterschiedliche nationale Befindlichkeiten eine primäre Rolle spielten, war doch der Grad der internationalen Zusammenarbeit bei einem militärisch so sensiblen Thema mehr als erstaunlich. Seit 1863 fanden sogar wiederholt international besetzte Kongresse mit einem regen und meist offenen Meinungsaustausch statt.

In seiner kompakten und klar gegliederten Studie über die Anfänge der wissenschaftlichen Demographie vor dem Ersten Weltkrieg zeichnet der in Basel lehrende Historiker Heinrich Hartmann ein facettenreiches Bild einer um ihre Selbstfindung bemühten Disziplin, in der selbst namhafte Wissenschaftler wie Rudolf Virchow , ausgestattet mit dem ideologischen Rüstzeug des späten 19. Jahrhunderts, Irrwege in der neuen Grauzone zwischen seriöser Sozialforschung und rassistischen Theoremen kaum vermeiden konnten. Tatsächlich erwies sich damals die Einrichtung der Musterungskommission als die entscheidende zivil-militärische Schnittstelle in einem Prozess der Neukonstruktion der eigenen Nation im Zeichen kriegerischer Tugenden. Allerdings zeigte sich dort auch, dass der militärische Anspruch einer reibungslosen Selektion der Wehrtauglichen mit dem wissenschaftlichen Interesse einer möglichst umfassenden Datenerfassung regelmäßig in Konflikt geriet. Kaum eine Minute im Mittel veranschlagten die Militärbürokraten pro Rekruten, viel zu wenig für eine Erhebung valider Daten, wie sie sich die Statistiker anfangs noch erhofft hatten. Hartmann beschreibt in seiner Studie die Genese einer neuen demographischen Wissenschaft, wobei er sich vor allem auf die institutionellen und formalen Aspekte dieses Prozesses konzentriert, auf dessen zeitgebundene Resultate geht er nur am Rande ein. Im Fokus seiner komparativ angelegten Betrachtung stehen Deutschland, Frankreich und die Schweiz, fallweise zieht er auch Befunde aus Italien und Österreich-Ungarn ein. Dass die Bemühungen von Demographen und Statistikern keine haltbaren Ergebnisse erbrachten, vermag heute nicht mehr erstaunen, das Scheitern des Nachweises rasseideologischer Theoreme vielleicht sogar Häme auslösen. Wer allerdings kritisch die aktuellen Bemühungen westeuropäischer Gesellschaften registriert, Bildung und Qualifikationen an Schulen und Universitäten jetzt für die Bedürfnisse der Wirtschaft zu instrumentalisieren, um sich im internationalen Wettlauf um die höchste Produktivität zu behaupten, dürfte über die gleichgerichteten Anstrengungen damaliger Wissenschaftler und Politiker zugunsten einer Erhöhung des nationalen Wehrkraftpotentials nicht mehr so leicht den Stab brechen.

Klaus-Jürgen Bremm