Rezension über:

Stéphane Dufoix: La Dispersion. Une histoire des usages du mot diaspora, Paris: Éditions Amsterdam 2011, 574 S., ISBN 978-2-35480-105-2, EUR 21,00
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Stéphane Dufoix: La Dispersion. Une histoire des usages du mot diaspora, Paris: Éditions Amsterdam 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/21009.html


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Stéphane Dufoix: La Dispersion

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Das ist selten: Eine Studie zur Geschichte eines in der Forschung inzwischen gängigen Begriffs, die sich so spannend liest wie ein Krimi. Diaspora-Studien sind inzwischen ein fest etabliertes Feld der Migrationsforschung, aber eines, das sich recht selten Gedanken über seine eigenen Ursprünge macht, die kaum älter sind als 30 Jahre. Und wenn Geschichten vom Ursprung erzählt werden, dann führen sie offenbar in die Irre, was aber kaum jemand auffällt, da die Frage der Geschichte einer Vokabel eher weit weg liegt von den Fragen, welche die neueren Forschungen zur Soziologie, Ökonomie oder Geschichte der Diaspora bewegen.

Es bedarf schon eines speziell ausgeprägten Interesses, um auf diesem schwierigen Gebiet zum Detektiv zu werden. Stéphane Dufoix hat es, und es ergibt sich in plausibler Weise aus zwei Interessensgebieten, zu denen er bereits maßgeblich publiziert hat: die Diaspora als Gegenstand [1] sowie das Vokabular, dessen sich die Migrationsforschung bedient. [2] In diesem Werk fragt er nun nach den Anfängen des Begriffs, nach den Gründen der langsamen Karriere und des plötzlichen Aufstiegs der Vokabel Diaspora, nach den Orten und wissenschaftlichen Kontexten, in denen er sich vollzog, und nach den Interessen und Weichenstellungen, die sich damit verbanden.

Der erste Teil zeigt in einem überaus gelehrten, stringenten und überraschenden Überblick, dass eine vielen Lexika gemeinsame Annahme nicht stimmt: διασπορά (diaspora), das erstmals prominent in der Septuaginta (der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel) auftaucht, sei das griechische Äquivalent des hebräischen Worts גל׀ת (galut), das mit "Exil" übersetzt werden kann. Zwar findet sich διασπορά an prominenter Stelle zuerst in der Septuaginta, aber: Weder bedeutete διασπορά im zeitgenössischen Griechisch Exil, noch findet sich an den Stellen, an denen die Vokabel in der Septuaginta auftaucht, im Ausgangstext גל׀ת (galut) oder ein vergleichbares Wort - diese werden in der Septuaginta mit den eingeführten Begriffen für Kriegsgefangenschaft oder Auswanderung wiedergegeben. Die vorher selten belegte Vokabel διασπορά wurde stattdessen gewählt, um Worte zu übersetzen, die eine als Strafe Gottes zu fürchtende Auflösung des Zusammenhalts der Juden in der Zukunft androhten.

Damit ist der Kontext markiert, für den das Wort über Jahrhunderte reserviert blieb, bis es im Mittelalter mit dem Untergang der griechisch schreibenden Christenheit praktisch vergessen wurde: Die theologische Diskussion über die Bedeutung und Funktion von Zerstreuung im Raum als Strafe und die Möglichkeit, den Zustand des jüdischen über die Welt verteilt seins zu beenden. Da letztere Diskussion allerdings logischer Weise um die hebräische Vokabel גל׀ת kreiste, bleibt der Übergang zum Begriff "Diaspora" erklärungsbedürftig - denn in den Auseinandersetzungen für und wider den Zionismus war er zweifellos präsent. Dufoix verortet den Transfer im 18. Jahrhundert im Umfeld der mährischen Brüder, die ihn - dem apokalyptischen Kontext noch recht nahe - seit dem 18. Jahrhundert benutzten, um die Existenz von über die Welt verstreuten Gemeindemitgliedern zu bezeichnen. Im Zuge der Diskussionen über ein Ende der jüdischen dispersion in der Welt stand damit auf deutsch eine im protestantischen Milieu geprägte, inzwischen weiter verbreitete Vokabel zur Verfügung, die bald auch auf englisch oder französisch benutzt wurde.

Wie aber konnte aus einer zwar säkularisierbaren, aber religiös und politisch negativ überdeterminierten Vokabel ein neutraler, positiv besetzter Begriff werden, der so weit gefasst sein kann, dass er sich zur Beschreibung von Angehörigen migrierender Nationen (der "griechischen Diaspora" etwa) ebenso einsetzen lässt wie zur Erfassung von Binnenwanderungen (etwa die "Diaspora" aus New Orleans, die sich nach dem Hurrikan Katrina gebildet hat)?

Dufoix zeigt eine ganze Reihe von Wegen und Kreuzungen auf, die sich zwar nur schwer synthetisieren lassen, aber doch eine parallele Tendenz haben. Charakteristisch für die Entwicklung sei, dass es immer wieder in analogen Kontexten mehr oder weniger gleichzeitig zu einer Erweiterung der Bedeutung von Diaspora komme. Manchmal könne man dafür persönliche oder intellektuelle Netzwerke ausmachen, welche die Diffusion von Diaspora erleichterten, manchmal scheine der naheliegende Schritt unabhängig unternommen worden zu sein.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Diaspora verstärkt von der jüdischen Geschichte gelöst und auf andere, vergleichbare Fälle eines unfreiwilligen Exils bezogen, das durch eine emotionale, religiöse oder auch nur persönliche Bindung an eine "Heimat" ausgezeichnet war. Besonders intensiv funktionierte diese Analogiebildung mit Blick auf die aus dem Sklavenhandel resultierende "afrikanische Diaspora" - wobei darunter auch die Migration von Afroamerikanern aus dem Süden in den Norden der USA verstanden werden konnte. Politisch lag eine solche Analogiebildung auf englisch wegen der fragilen, zeitweise sehr engen Allianz zwischen jüdischen und afroamerikanischen Intellektuellen und Aktivisten ebenso nahe wie angesichts des Versuchs der nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten, in engeren Kontakt mit 'ihrer' Diaspora in Frankreich zu treten - in der Hoffnung, dabei ähnlich erfolgreich zu sein wie Israel.

Bis zu den 1990er Jahren hatte sich aus den verschiedenen Forschungen, die mit unklaren oder widersprüchlichen Definitionen des Begriffs operierten - wenn sie ihn nicht überhaupt nur als lockere Metapher verwandten - ein Bedeutungsfeld entwickelt, das breit und eng genug war, 1991 die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel Diaspora zu tragen. Das führte zu einem letzten Wandel: Der starke Bezug auf einen religiösen oder geographischen Ursprung, der Diaspora bislang ausgezeichnet hatte, wich nun einer Verwendung, die Diaspora auch für die Beschreibung einer universellen, existentiellen, im Unterschied zur Bibel aber nun positiv oder neutral gewerteten Dislokation öffnete. Diaspora erlebte so seine eigene Migrationsgeschichte: "Parti d'Alexandrie il y a quelque 2300 ans, il s'est lentement diffusé, repoussant ses frontières spatiales autant que sémantiques [...] Aujourd'hui, il ne connaît plus de frontières, tellement diffusé que sa propre dispersion, à l'image des autres dispersions contemporaines qu'il est venu à pouvoir décrire, n'en est pas une. Loin de s'annihiler dans le paradoxe, diaspora permet désormais aussi d'articuler ses contraires." (562)

Diese Geschichte einer intellektuellen Migration in einer Weise nachvollzogen zu haben, die jeder methodischen Engführung entgeht, immer wieder durch die Vielzahl ihrer Perspektiven und vor allem durch ihre philologische, wissenschaftshistorische und darstellerische Kompetenz begeistert, ist das große Verdienst des Autors.


Anmerkungen:

[1] Stéphane Dufoix: Les Diasporas. Paris 2003; auch übersetzt als Diasporas, Berkeley 2008.

[2] Sylvie Aprile / Stéphane Dufoix: Les mots de l'immigration. Paris 2009.

Andreas Fahrmeir