Rezension über:

Gaetano Raciti (ed.): Aelredus Rievallensis. Opera omnia IV. Sermones LXXXV-CLXXXXII (Collectio Radingensis) (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; II C), Turnhout: Brepols 2012, 854 S., ISBN 978-2-503-52917-2, EUR 425,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Gaetano Raciti (ed.): Aelredus Rievallensis. Opera omnia IV. Sermones LXXXV-CLXXXXII (Collectio Radingensis), Turnhout: Brepols 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/21910.html


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Gaetano Raciti (ed.): Aelredus Rievallensis. Opera omnia IV

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Aelred (1110-1167), Abt der nordenglischen Zisterzienserabtei von Rievaulx, ist in der deutschsprachigen Forschung zwar kein Unbekannter, aber immer noch weit davon entfernt, diejenige prominente Stellung einzunehmen, die er innerhalb der angloamerikanischen Forschung seit Jahrzehnten innehat. Man weiß hierzulande zwar um Aelreds Einfluss auf die politischen Geschicke Englands um die Mitte des 12. Jahrhunderts, schätzt seinen Freundschaftstraktat "De spirituali amicitia" und seinen "Speculum caritatis", führt vielleicht auch das Diktum vom "Bernhard des Nordens" im Munde: und doch begegnet man dem Hauptteil des überlieferten Werks, den Predigten, mit erstaunlicher Zurückhaltung. Die Situation jenseits des Atlantiks präsentiert sich gänzlich anders: hier gilt Aelred - mitunter noch vor Bernhard von Clairvaux - als Vertreter par excellence zisterziensischer Spiritualität in der "goldenen" Frühzeit des Ordens, als Autor, der nicht nur durch subtile Rhetorik, sondern durch einen lebenspraktischen Zugriff auf die monastische Wirklichkeit besticht. Dass er zum "everybody's darling" der gender-studies avancieren konnte und Ausgangspunkt einer der großen, mit erbitterter Heftigkeit geführten Forschungskontroversen der vergangenen Jahrzehnte war, sei als Kuriosum nur am Rande bemerkt.

1981 gelang Gaetano Raciti, Trappist im belgischen Kloster Orval, das, wovon viele Mediävisten träumen: die Entdeckung bisher unbekannter Texte aus dem hohen Mittelalter. Die aktuell in der Bibliothèque Nationale aufbewahrte Handschrift nouv. acq. lat. 294 aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts barg einen Schatz, dessen Hebung nicht nur den engen Kreis der Ordenshistoriker aufhorchen ließ. Das aus dem Benediktinerkloster im englischen Reading stammende, bis ins 18. Jahrhundert in Cluny aufbewahrte Manuskript enthielt eine Sammlung anonymer Predigten, die von Raciti bereits 1983 aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Kriterien zweifelsfrei Aelred of Rievaulx zugeschrieben werden konnte. [1]

Die Fachwelt fieberte der Edition dieses Predigtcorpus nicht zuletzt deshalb entgegen, weil Raciti während der vergangenen Jahre immer wieder Teile daraus befreundeten Forschern zur Verfügung gestellt hatte. Diese operierten mit und zitierten aus Arbeitstexten - ein insgesamt unbefriedigender Zustand, der jedoch die Spannung auf das Ganze wachsen ließ.

Nach einer "Vorlaufzeit" von immerhin mehr als 30 Jahren liegt nun also eine mustergültige Predigtedition vor, mit der das Projekt der Opera omnia Aelreds von Rievaulx in der prestigeträchtigen Reihe des Corpus Christianorum, Continuatio medievalis seinen glanzvollen Abschluss findet. [2]

In der knappen einleitenden Handschriftenbeschreibung äußert Raciti die Hypothese, die Readinger Handschrift gehe auf einen Codex aus Rievaulx zurück, der seinerseits die direkte Kopie eines autographen Dossiers darstelle, in das der Abt von Rievaulx während seiner letzten Lebensjahre nicht nur Zitate antiker und zeitgenössischer Autoren, sondern auch eigene Predigten eingetragen habe. Bewiesen werden kann dies nicht, doch untermauert Raciti seine Hypothese mit nachvollziehbaren Argumenten.

Die fast 100 Predigten des Readinger Codex werden vom Editor fünf Untergruppen zugewiesen: 1. neun Predigten finden sich ebenfalls - allerdings in anderer redaktioneller Gestalt - in den bereits edierten Sammlungen von Clairvaux bzw. Durham; 2. 52 Predigten sind bisher unbekannt, als Werke Aelreds jedoch aufgrund sprachlicher Gemeinsamkeiten mit anderen sermones zu identifizieren; 3. 22 Predigten zitieren extensiv aus anderen, vornehmlich hagiographischen Quellen und sind gleichsam um diese Zitate "herumgebaut"; 4. neun Predigten dürfen als Sonderfall der eben erwähnten dritten Gruppe gelten, erfolgt in ihnen doch die systematische Wiedergabe, wörtlich und/oder anklangsweise, einer Predigt von Geoffroy Babion († 1158) und dreier Werke, darunter De Sacramentis, von Hugo von St. Victor († 1141); 5. sechs Sermones lassen sich als "Plagiate" von Predigten Aelreds durch Odo v. Canterbury († 1200) und Geoffroy d'Auxerre († um 1190) identifizieren.

Der Abdruck der Predigten in vorliegendem Band folgt der Anordnung innerhalb der Handschrift, d.h. orientiert sich am liturgischen Jahr ohne dabei zwischen de tempore und de sanctis-Zyklen zu unterscheiden.

Eine Gliederung nach Predigttypen ergibt folgenden Befund: Aelred behandelt in der Kategorie de tempore 13 Sonntage mit insgesamt 37 Predigten. Wenig überraschend stehen hier Weihnachten und Pfingsten an der Spitze. Zur Kategorie de sanctis gehören 24 Heilige mit insgesamt 57 Predigten. Unter der Rubrik de occasionibus sind zwei Predigten ad abbates und eine Predigt ad sanctimoniales zu verbuchen.

Der Besitzervermerk zu Beginn der Handschrift macht deutlich, dass Hugo, Abt von Reading, sie bei seiner Wahl zum Abt von Cluny 1199 mit nach Burgund nahm und der dortigen Abtei schenkte. Sorgfalt kann man dem Schreiber nicht absprechen, gleichwohl haben sich im Laufe des Kopiervorgangs - insbesondere beim Übergang von einer Zeile zur anderen - Fehler eingeschlichen. Die originale Interpunktion trägt wenig zur Gliederung bei und verdunkelt häufiger den Sinn des Gesagten. Fehler scheinen sich auch bei der Auflösung (bzw. dem Nichterkennen) von Abbrevationen eingeschlichen zu haben.

Für mehr als die Hälfte der Sermones liegt also nur eine einzige Handschrift (Reading, Sigle P) vor, in die nötige Korrekturen und Konjekturen einzubringen waren. Die Arbeit mit und an einem codex unicus mag zunächst als relativ einfaches Unterfangen scheinen, ist tatsächlich jedoch unter vielen Gesichtspunkten heikler als die Edition mehrfach durch gute Textzeugen abgesicherter Stücke. Die vom Editor getroffenen Entscheidungen zeugen von der großen Vertrautheit mit dem Gesamtwerk Aelreds und erscheinen insgesamt schlüssig. Drei Apparate - apparatus biblicus et liturgicus, apparatus fontium und der Variantenapparat - dokumentieren die editorische Arbeit. Unverzichtbar sind die mit großer Sorgfalt gearbeiteten Indices (1. Index locorum sacrae scripturae; 2. Index auctorum; 3. Index nominum personarum; 4. Initia sermonum), die allein über 200 Seiten in Anspruch nehmen.

Von unschätzbarem Wert ist Aelreds Sermo 148 In festivitate sanctarum reliquiarum. Was die Predigt so interessant macht, ist die Tatsache, dass sie wohl in Westminster Abbey selbst gehalten worden ist. Dafür sprechen die Angaben ganz am Ende, wo Aelred nicht nur explizit auf einige in der Abtei verehrte Reliquien, sondern auch auf den Hauptpatron der Kirche, den Hl. Petrus, verweist. Es handelt sich hierbei um die einzige für Westminster überlieferte Reliquienpredigt überhaupt, in der nicht nur die Bedeutung des Heiltums für die Benediktinerkommunität, sondern weit darüber hinaus für das Königtum insgesamt unterstrichen wird. Von der Forschung wurde sie bisher nicht wahrgenommen.

Hinweise auf das "Tagesgeschehen" finden sich häufiger am Ende der einzelnen Predigten - ihr "Sitz im Leben" tritt dabei deutlich zutage. Aelreds Sermones sind mitnichten nur für die Liebhaber theologischer Höhenkammliteratur, sondern auch für all diejenigen von Interesse, die sich mit (monastischer) Alltagskultur und/oder Mentalitäten beschäftigen.

Die Textgestaltung ist über jeden Zweifel erhaben. Kritik ist allerdings in zwei Punkten zu üben. Der Index sermonum in classes distributorum (S. 850) ist, was die Auflistung der einzelnen Feste bzw. Heiligentage angeht, korrekt; allerdings sind die Verweise auf die edierten Predigten mit Ordnungs- bzw. Seitenzahlen fehlerhaft. Schwerer wiegt der Verzicht auf eine Einordnung der edierten Predigten zum einen in das Gesamtwerk Aelreds, zum anderen im Vergleich zu anderen zeitgleich entstandenen Predigtsammlungen zisterziensischer Provenienz. Keiner hätte diese Arbeit besser bewerkstelligen können als Raciti selbst. Eine Einführung von knapp acht Seiten in einen Text von 631 Seiten ist deutlich ausbaufähig.

Der Preis von 425 Euro mag exorbitant erscheinen. Die Edition ist aber jeden Euro wert.


Anmerkungen:

[1] Raciti, Gaetano: Deux collections de sermons de saint Aelred - une centaine d'inédits - découvertes dans les fonds de Cluny et de Clairvaux, in: Collectanea Cisterciensia 45 (1983) 165-184.

[2] Drei, ebenfalls von G. Raciti herausgegebene Vorgängerbände umfassen das bisher bekannte Predigtwerk (CCCM 2A: Sermones 1-46, 1989; CCCM 2B: Sermones 47-87, 2001; CCCM 2D: Homeliae de oneribus propheticis Isaiae, 2005). Die Opera ascetica (CCCM 1) waren bereits 1971 - mithin nur fünf Jahre nach dem Start der Corpus christianorum-Reihe - von A. Hoste, C. H. Talbot und R. Vander Plaetse ediert worden.

Ralf Lützelschwab