sehepunkte 13 (2013), Nr. 2

Stéphane Ratti: Polémiques entre païens et chrétiens

Ratti tut in diesem Buch zwei Dinge: Er versucht einerseits, ein Panorama heidnischen Schrifttums ca. 350-450 mit gezielt heidnischen und wenigstens versteckt antichristlichen Inhalten zu zeichnen (und antwortet damit teils antizipierend, teils explizit auf Camerons "Last Pagans"). Andererseits entwickelt er seine Thesen aus "Antiquus error" zu Nicomachus Flavianus d.Ä. (=NF) weiter. Eine Schwierigkeit bei der Lektüre des Buches liegt also darin, dass Ratti einerseits eine (für den nicht-anglophonen Bereich) Mehrheitsvorstellung verteidigt (und dabei Cameron einige gewichtige Argumente entgegenhalten kann), andererseits aber eine neue These (NF als Autor der HA und der pseudoquintilian. Decl. mai. 3), die als solche per definitionem Minderheitsvorstellung ist. Noch dazu deklariert er seine bei weitem nicht allgemein akzeptierten Thesen aus "Antiquus error" (2009) im neuen Buch explizit als "bewiesen". [1] Der Rezensent muss zudem eingestehen, mit dem Begriff "Beweis" in der Philologie grundsätzlich methodologische Schwierigkeiten zu haben. Ich kann in der Folge aus der komplexen und thematisch vielfältigen Materie nur einige mir zentral scheinende Knoten herausgreifen.

Die beiden Stränge verschränken sich am engsten in den Seiten über die Schlacht am Frigidus (111-127). Ratti vertritt die gemäßigte Einschätzung, dass diese Schlacht v.a. nachträglich zur Entscheidung in einem religiösen Konflikt stilisiert wurde, dies also nicht eine rein moderne Auffassung ist. Hier wie im ganzen Buch macht Ratti eine Vielzahl scharfsinniger Detailbeobachtungen, die die Lektüre, auch wenn man einige Grundthesen nicht teilt, lohnend machen. Seine Erklärung für das Fehlen von NFs Selbstmord bei Rufin (116: Vermeidung der Parallele mit dem "heidn. Märtyrer" Seneca) leuchtet ebenso ein wie die Überlegung, dass Teile der heidnischen Bevölkerung nach der dichten Folge von Gesetzen gegen heidnische Kultausübung 390/391 gewiss religionspolitische Hoffnungen an Eugenius knüpfen und seinen Konflikt mit Theodosius daher auch schon vor dem Frigidus zumindest vereinzelt durchaus religionspolitisch verstehen konnten (112). Zudem merkt Ratti auch zu Recht an, dass nur 30 Jahre nach Julians Tod schwerlich kein einziger Heide sich mehr einen neuen nichtchristlichen Kaiser vorstellen konnte (122-124).

Ratti zeigt weiter auf, dass NF von christlicher Seite als prominenter Gegner und Ziel für Polemik wahrgenommen wurde. Die Frage nach dem Geschmähten im Carmen contra paganos scheint mir jedoch nicht endgültig geklärt, auch wenn Ratti einige der klassischen Einwände gegen NF elegant auszuräumen vermag (Bezug des vix auf tracta (125) in tracta vix morte; das Carmen sagt nicht, dass der praefectus et consul an Wassersucht gestorben sei, nur, dass er daran litt, und diese Krankheit könnte sogar metaphorisch für einen aufgeblähten Charakter des Betreffenden stehen (126)). Dennoch ist weder mit der Ablehnung des Autors Damasus für das Carmen Praetextatus als Ziel der Polemik vom Tisch noch schließt die Tatsache, dass es in der Bibliothek eines Praetextatusnachfahren erhalten blieb, ihn a priori aus - und wenn doch, gälte das doch wohl auch für andere heidnische Leitfiguren wie NF.

Rattis breite Demonstration, dass NF Neoplatoniker war, gilt einem Faktum, das bei einem geistig interessierten Heiden der Spätantike kaum überraschen kann. Die 3 Stellen aus John v. Salisbury, an denen eine ansonsten unbekannte Schrift eines Flavianus über Philosophen zu Platon zitiert wird, sind gewiss eine kostbare Trouvaille, nur liest Ratti, auch wenn die Identität dieses Flavianus mit NF geklärt wäre, sehr viel Platonbewunderung aus diesen drei Ausschnitten heraus. Auch der Quervergleich mit der HA hinkt - gewiss werden Longinus und Platon darin lobend erwähnt, doch, wie Ratti selbst notiert, wird Marc Aurel über Platon gestellt (MA 19,12), und, was ihm entgangen zu sein scheint, den Titel philosophorum optimus erhält in Gall. 17,1 Xenophon. Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem in einem Symmachusbrief an NF (ep. 2,61) erwähnten ägyptischen Philosophen Serapammon und seinem Namensvetter in HA Gd. 25,2 kann m.E. auch nicht für NFs HA-Autorschaft und Neoplatonismus in Anspruch genommen werden, da der Serapammon der HA keine positive Figur ist, sondern einer von Gordians III. auf christliche Empfehlung fehlbesetzen Feldherrn; der Name taucht also in unsern Quellen keineswegs "avec à chaque fois la même connotation" auf (140).

Viel Interessantes findet Ratti bei der genauen Betrachtung der 7 Gesetze aus dem CTh, die an NF gerichtet, und jenen 6, die wohl von NF als Quaestor sacri palatii verfasst worden sind: Der Vergleich des Symmachusbriefes 2,13 a.d.J. 389 mit dem Fideikommissgesetz aus dem selben Jahr macht es in der Tat plausibel, dass dieses Gesetz aus NFs Küche stammt und Symmachus es in seinem Brief an NF deshalb so ausführlich lobt - verkleidet als Kaiserlob (152). Die Parallelen mit der HA (154) scheinen mir hingegen nirgends schlagend - dass der Verfasser der Gesetze und jener der HA sich über ähnliche juristische Themen Gedanken machten, ist kein Identitätsnachweis (denn das träfe ja z.B. auch auf Symmachus zu). Namentlich der Vergleich zwischen dem Gesetz gegen männliche Homosexualität von 390 und einigen Passagen in der HA (156-162) vermag mich nicht mehr zu überzeugen als in "Antiquus error": Die Worte contaminatio, foedari, alieni / sui sexus, pudet dicere und ihre ganzen Wortfamilien scheinen mir viel zu unspezifisch und beim Thema Homosexualität vorhersehbar. Noch dazu stammt der hauptsächlich von Ratti verwendete HA-Vergleichstext aus der Vita des Carinus, der ebenso als heterosexueller Ehebrecher dargestellt wird, während die vita Heliogabali, in der das Thema Homosexualität vorherrscht, kaum berührt wird - verständlich, denn dort ist ein weit reicheres Vokabular im Gebrauch (exoletus, subactor, onobeli, inire, subare, bene vasatus, inguina osculari etc.).

Auf diesem Vokabularvergleich beruht auch ein Teil der Argumentation der Zuweisung der pseudoquintilian. Declamatio maior 3, des sog. Miles Marianus, an NF - auch dies eine These aus "Antiquus error", die Ratti im vorliegenden Buch als bewiesen voraussetzt. Neu in diesem Dossier ist die Catovita des anonymen, im Victorcorpus überlieferten De viris illustribus (61), und zwar aufgrund der lobenden Erwähnung der Exilierung des Flamininus durch Cato. Nur wird das Geschlecht des scortum, zu dessen Unterhaltung Flamininus während eines Banketts einen Verurteilten hat hinrichten lassen, in Ps.-Aur.V. vir.ill. 47,4 gerade nicht spezifiziert, weshalb diese Stelle wohl schwerlich als Beweis für eine besonders ausgeprägt anti-homosexuelle Einstellung ihres Autors dienen kann.

Ähnlich sieht es (163) mit HA AS 16,1-3 aus, wo a) Gesetze erwähnt werden, die das Verhältnis zwischen Fiskus und Volk regeln; b) gute Fachratgeber des Kaisers und c) Alexanders Gewohnheit, große Entscheide noch zu überdenken. Dabei werden Alexanders Ratgeber disertissimi (aber auch periti, doctissimi und sapientes) genannt, was Ratti mit dem Epitheton historicus disertissimus verbindet, das NF auf seiner Rehabilitationsinschrift von 431 (CIL VI 1782) erhält. Auch wenn sich unter Alexanders Ratgebern 16,3 omnes litterati et maxime ei, qui historiam norant, befinden und diese Stelle gewiss auch ein Plaidoyer der HA pro domo ist, kann ich Rattis Schluss, NF portraitiere sich als Autor der HA in dieser Passage selber, nicht folgen. Selbst wenn sich mit disertissimus etwas beweisen ließe und die genannten Elemente in AS 16,1-3 tatsächlich bewusst in Zusammenhang mit Werk und Persönlichkeit des NF stehen sollten (sapiens also z.B. tatsächlich wieder auf NFs Neoplatonismus verweisen sollte), wäre dies kein Beweis dafür, dass NF der Autor der HA ist. Ratti zieht den Schluss wie folgt: "L'on retrouve ici une multitude de traits que l'auteur de cette Vie a semés en pensant évidemment à sa propre personne [...] L'auteur de l'Histoire Auguste a beaucoup trop parlé de soi pour espérer sincèrement dissimuler à jamais son identité." Doch nicht jeder Autor spricht zwanghaft über sich selbst. Es ist nicht das erste Mal in der Forschungsgeschichte der HA, dass die Spuren einer großen Persönlichkeit übers ganze Werk verstreut entdeckt worden sind - Baynes hat 1926 den Schluss gezogen, Julian sei so präsent in der HA, dass sie unter seiner Regierung entstanden sein müsse. Diese Idee wurde in der Folge verworfen, da Julian auch nach seinem Tod eine wichtige Figur für die Geistesgeschichte des 4. und 5. Jahrhunderts blieb. Wenn NF einen ähnlich starken Eindruck auf seine Zeitgenossen gemacht hat - und Rattis Portrait des Mannes wirkt trotz extremen Elementen ausgewogener als Camerons Versuch, NF jegliche intellektuelle Dimension abzusprechen -, darf es also keineswegs erstaunen, wenn Anspielungen auf ihn und ein dem seinen zumindest verwandtes Wertesystem in der HA zu Tage treten, in deren Autor die Mehrheit heutzutage jemanden aus NFs Umfeld vermutet, wenn nicht gleich seinen homonymen Sohn.

Weitere Kapitel sind wie gesagt einer Bestandesaufnahme der heidnischen Befindlichkeiten Ende 4. / Anfang 5. Jahrhundert gewidmet, namentlich Rutilius Namatianus (dessen De reditu suo Ratti mit guten Argumenten als durchaus konkret, ja, polemisch sich mit seiner Gegenwart auseinandersetzendes Poem sieht, auch wenn man die Vorstellung von De reditu suo als Antwort auf De civitate Dei (90) als etwas hoch gegriffen empfinden mag), den Briefcorpora von Libanius und Symmachus (feine Beobachtungen zu Aussparungen, Lücken und angeblicher Sinnleere 39-42; 45-49).Weniger überzeugend für mich die Seiten über den Querolus (89-104), den Ratti m.E. zu wenig als Theaterstück behandelt, zu wenig darauf achtet, welche Figur was sagt. Den antichristlichen Unterton im Allgemeinen illustriert er plastisch, doch die Augustinparallelen scheinen mir im Wesentlichen möglich, aber - auch als versteckte Seitenhiebe - schwach, und die angebliche Anspielung der Begrüßung des Lar durch Querolus auf die Beschreibung Christi bei der Transformation beruht auf einer einzelnen teilweisen Wortparallele (albus Quer.18 / dealbatus Lc 9,29). Hochinteressant hingegen die Einordnung dieses Texts in den Diskurs der christlichen Kritik (incl. Gesetze) an Spectacula, Feiertagen und Lachen (68-76). Wie schon in "Antiquus error" weiß Ratti viel Erhellendes vorzuführen, wenn es um Dokumente für einen heidnisch-christlichen Prioritätsstreit bei moralischen Werten geht wie z.B. um die von beiden Seiten beanspruchte devotio (62-66; 166-178; besonders die erfrischende und überzeugende Interpretation von St. Laurentius' bekanntem "assum est, versa et manduca" (63)).

Die anticameronische Demonstration eines heidnischen geistigen Widerstandes wird leider immer wieder durch Zirkelschlüsse gefährdet wie die Aussage (107), seine, Rattis Lesart entscheide endlich die Frage, ob die HA eine durchgängige Tendenz habe - in der Person des Autors scheint der "Beweis" für eine Bejahung zu liegen. (Andererseits betont Ratti (130), dass er "par un raisonnement et une découverte en quelque sorte [...] intrinsèques et extérieurs à l'œuvre elle-même" auf den Autor gekommen sei. Dies mag dazu geführt haben, dass das Werk selber meiner Meinung nach nicht recht zu der These passen will.)

Das ist besonders schade, weil diesen Überlegungen Rattis die mehr als nur berechtigte Warnung davor zu Grunde liegt (18), die HA kontextunabhängig zu betrachten, als ob ihre gewichtigen fiktiven Anteile nichts über ihre eigene Zeit aussagen könnten. Ausführlich wendet er sich gegen eine religionsfreie, entpolitisierte Lektüre, wie er sie sicher zu Recht v.a. im anglophonen Raum konstatiert. Dies analysiert er als Konsequenz aus den Studien von v.a. Cameron und Peter Brown (16), sieht die Anfänge aber schon bei Gibbon, den er als einzigen eingehender widerlegt, als ob damit zu Cameron und Brown auch alles gesagt wäre.

Die Beispiele für religionspolitische Lektüre einzelner Kaiserviten funktionieren unterschiedlich gut. Der Abschnitt zu Gallienus ist, wie vom Editor seiner Vita nicht anders zu erwarten, erhellend (auch wenn mir nicht klar ist, wer die "tradition historiographique latine" sein soll, die "à la suite de l'H.A." Gallienus unfreundlich darstellen wird (22) - etwa Ammian und die Epitome?). Die Betonung von Commodus' Hang zu orientalischen Gottheiten ist aber m.E. viel eher als Kritik an Heiden zu sehen, die sich exzessiv östlichen Kulten widmen, denn als indirekte Karikatur des Christentums (23).

Bei Stellungnahmen gegen die von Cameron vertretene Sichtweise wird Ratti teilweise überraschend emotional, so etwa, wenn er die heidnische römische Stadtaristokratie wie folgt in Schutz nimmt: "On minimise à dessein leurs convictions intimes, on leur dénie même toute sincérité dans leur engagement." Leider lässt er sich dadurch gar zu Aussagen über biographisch-zeitgeschichtliche Gründe für die Thesen seiner "Gegner" hinreißen (17). Der "Epilogue" (179-187), eine nach Abschluss des eigentlichen Buches verfasste Reaktion auf Camerons "Last Pagans", beginnt wohltuend damit, dass Ratti beiden Positionen einen fruchtbaren Dialog wünscht. Was darauf folgt, ist allerdings wenig dazu angetan; er argumentiert mit personenbezogenen Spekulationen, die er mit fundierter, sachlicher Kritik an Cameron vermischt. Sicher, kein Wissenschaftler kann frei von der eigenen Biographie sein, doch darüber in so summarischer Form zu spekulieren ist beinahe so unfreundlich wie die hämische Süffisanz, mit der Cameron Gegenpositionen referiert.

Einige Marginalien zum Schluss: Markante Fehler sind vorhanden, bei welchen mir unklar bleibt, ob sie auf Flüchtigkeit bei der Korrektur oder bei der Produktion des Textes beruhen. So stammt eine zitierte Aussage von Syme "à la fin de sa vie" (105) von 1996, nicht 1966; das Senaculum, der angebliche Frauensenat, wurde laut HA keineswegs von Heliogabals Gattin gegründet (keine seiner 3 Gattinnen wird in der HA je genannt), sondern vom Kaiser selbst für seine Mutter (142); NF und Arbogast befanden sich gewiss nicht, wie 119 zu lesen ist, "en campagne contre Eugène", sondern "contre Théodose"; "son fils Valérien" (146, über Gallienus) muss heißen "son père", was dem Gallienuseditor Ratti gewiss nicht selbst passiert ist.

Alles in allem kein einfaches Buch, das aber mit seiner pointierten Sicht auf die Epoche bei Zustimmung wie bei Dissens überaus anregend ist und wichtige Diskussionen in Gang hält oder erst setzt.


Anmerkung:

[1] E.g. 105: "Sir Ronald Syme écrivait [...] que la priorité dans les études sur l'Histoire Auguste était de découvrir la personnalité et la qualité de son auteur. C'est aujourd'hui chose faite depuis que j'ai avancé, en 2005, l'idée absolument neuve"; 130: "La preuve de la paternité de Nicomaque Flavien senior n'est plus à faire et si elle rencontre encore - à l'échelle du temps de la philologie, c'est une idée absolument neuve - des résistances, il faudra néanmoins s'y habituer et en tirer toutes les conséquences."

Rezension über:

Stéphane Ratti: Polémiques entre païens et chrétiens, Paris: Les Belles Lettres 2012, 289 S., ISBN 978-2-251-38112-1, EUR 25,00

Rezension von:
Samuel Zinsli
Klassisch-Philologisches Seminar, Universität Zürich
Empfohlene Zitierweise:
Samuel Zinsli: Rezension von: Stéphane Ratti: Polémiques entre païens et chrétiens, Paris: Les Belles Lettres 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 2 [15.02.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/02/21235.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.