Rezension über:

Mathias Wagner: Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie (= Kultur und soziale Praxis), Bielefeld: transcript 2011, 374 S., ISBN 978-3-8376-1775-7, EUR 33,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jerzy Kochanowski
Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jerzy Kochanowski: Rezension von: Mathias Wagner: Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie, Bielefeld: transcript 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/23790.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Mathias Wagner: Die Schmugglergesellschaft

Textgröße: A A A

Zwei benachbarte Gemeinschaften verhalten sich immer wie kommunizierende Gefäße. Bei den geringsten Unterschieden (gerade bei Preisen und Versorgung) reicht ein Spalt in der Grenze, damit zwischen ihnen ein - oft inoffizieller - Austausch beginnt. Für die Schmuggelwirtschaft an den polnischen Grenzen interessierten sich lange Zeit in erster Linie Zoll und Polizei; erst durch die Wende am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre wurde es möglich, dass sich auch Soziologen, Anthropologen und Historiker mit ihr befassten. Anfangs richteten sie (und andere) ihr Augenmerk auf die Westgrenze, wo das Gefälle - und damit auch der Transfer von Menschen und Waren - am größten war.[1] Das Interesse für die Ostgrenze nahm zu, als sie 2004 zur Außengrenze der Europäischen Union wurde - mit allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen.

In den Jahren 2005-2008 untersuchte eine Gruppe deutscher und polnischer Wissenschaftler im Rahmen des Projekts "Grenze als Ressource: Kleinhandel in der Armutsökonomie an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordostpolen und dem Bezirk Kaliningrad", das die Volkswagenstiftung finanzierte, die inoffizielle Wirtschaft an der Grenze zur Russischen Föderation (Oblast Kaliningrad). Der Bielefelder Ethnograf Mathias Wagner befasste sich mit der Grenzstadt Sępopol (Schippenbeil) in Masuren, die Feldforschung führte er 2005/06 durch. Er hat dabei eine gute Wahl getroffen - einerseits erleichterte die bescheidene Größe von Stadt und Gemeinde die Analyse, andererseits war Schmuggel aufgrund der selbst für die Ostgrenze hohen Arbeitslosigkeit (2002: 37 Prozent) hier ein Massenphänomen.

Feldforschung, teilnehmende Beobachtung und Interviews sind oft subjektive Methoden. Wenn man jedoch das richtige Instrumentarium anwendet, können sie hilfreich sein, um die untersuchten Mechanismen und Prozesse zu verstehen. Wenn es auch etwas paradox klingt, so war die "Fremdheit" des Autors in diesem Fall ein Vorteil. Als Mensch von außen bewahrte er sich einen scharfen Blick und erkannte Details, die einheimischen Beobachtern oft entgangen wären. Außerdem war er für die dortigen Bewohner eine "neutrale Person", stellte keine Konkurrenz oder Bedrohung dar. Dies war insofern entscheidend, als der Schmuggel, obwohl er von der lokalen Gemeinschaft akzeptiert wird (in den Gesprächen wurde dieser negative Begriff "Schmuggel" durch "Handel" ersetzt), ein offensichtlicher Rechtsbruch bleibt. Dem deutschen Ethnografen gelang es, soviel Vertrauen zu gewinnen, dass er die Bewohner bei ihren Grenzübergängen begleiten konnte.

Der Autor bewegt sich auf den Spuren von Erving Goffmans Wir alle spielen Theater. Bevor er die wichtigsten Personen, Szenen und Kulissen beschreibt, stellt er den Hintergrund dar, vor dem das "Theater" stattfindet. Er führte eine soziale und wirtschaftliche Analyse Sępopols, der Einnahmen und Ausgaben der Einwohner, ihres Konsums und ihrer Überlebensstrategien durch. In der Kleinstadt, die sicherlich kein Gewinner der Transformation war, ist diese Palette begrenzt. Wer nicht mobil und kreativ genug ist, um woanders sein Glück zu versuchen, dem bleibt nur die wenig einträgliche Schwarzarbeit - oder der etwas ertragreichere Kleinhandel und Schmuggel.

Akteure in dem von Wagner beschriebenen Theater sind sowohl Schmuggler als auch Zollbeamte. Letztere bezieht er in seine Untersuchung mit ein, konzentriert sich aber auf die Ersteren. Und er versucht, ihre Motivation und die Bedingungen, unter denen sie Schmuggel betreiben, zu verstehen (und zu kategorisieren). Die Teilhabe an diesem Geschäft bedeutet oft den Verlust des bisherigen gesellschaftlichen Status und den Abstieg auf eine niedrigere Position. Wagner unterscheidet fünf Typen der Beteiligung: 1. "eigenständige" Akteure, die über ein eigenes Auto verfügen; 2. "Freiberufler", die auf eigene Faust handeln, aber öffentliche Transportmittel benutzen; 3. geschlossene "Kollektive", die gemeinsam zum Beispiel einen Bus "chartern"; 4. "Unternehmer", die mehrere Autos und Busse besitzen und im großen Stil im Geschäft sind. Dieser vierte Typus bringt es mit sich, dass eine an Zahl nicht geringe fünfte Gruppe von "Tagelöhnern" bereitsteht, die für diese Unternehmer tätig sind.

Der Autor gibt einen faszinierenden Einblick in die illegale Kleinwirtschaft, erliegt aber nicht der Versuchung, billige Sensationen darzustellen. Viel Raum verwendet er auf die Beschreibung sowohl des Sortiments (das übrigens sehr bescheiden ist - Zigaretten, Alkohol, Benzin, Zucker) und der Schmuggelmethoden (Verstecken, Transport und so weiter) als auch der Begleiterscheinungen wie Korruption, Konkurrenz und Gewinnmargen. Er unterscheidet mehrere Profiteure: jene, die Schmuggel wie einen Beruf betreiben, über Gelegenheitsschmuggler bis hin zu indirekten Nutznießern, zum Beispiel Behördenvertretern, die ein Auge zudrücken, weil so die soziale Fürsorge entlastet wird oder weil lokale Kaufleute durch die stärkere Kaufkraft der Einwohner höhere Gewinne erzielen.

Wagner konzentriert sich auf die polnische "Schmugglergesellschaft" und schaut nicht auf ihr Spiegelbild jenseits der Grenze, ohne das sie nicht bestehen könnte. Das ist schade, zumal dies sicherlich keine Forschung in ähnlichem Umfang erfordert hätte. Es hätte gereicht, amtliche Quellen, die Presse oder (nach dem Vorbild von Historikern oder Soziologen) analoge Beispiele hinzuzuziehen. Denn die polnisch-russische Grenze ist nicht die einzige, die das Interesse der Wissenschaft geweckt hat. Seit einigen Jahren wird die Grenze mit der Ukraine unter dem Aspekt des Schmuggels untersucht. Zu diesem Thema haben unter anderem Abel Polese und eine polnisch-ukrainische Forschergruppe von der Warschauer Universität publiziert. Von Bedeutung wären für Wagner vor allem die Ergebnisse dieser Gruppe gewesen. Wenn Historiker zweifellos mehr Fragen stellen sollten, so sollten Ethnografen gewiss mehr lesen.

Wagners Buch ist nicht nur für Ethnografen interessant, sondern auch für Soziologen und Historiker. Im Prinzip hat es auch schon Quellenwert, denn ein Jahr nach Wagners Feldforschung in Sępopol ist Polen dem Schengen-Raum beigetreten, wodurch sich das Schmuggeltheater ganz erheblich verändert hat. Sicher ist, dass das Quellenmaterial für die Forschung auf lange Zeit ausreichen wird.


Anmerkungen:

[1]: Ursula Weber: Der Polenmarkt in Berlin. Zur Rekonstruktion eines kulturellen Kontakts im Prozeß der politischen Transformation Mittel- und Osteuropas, Neuried 2002; Małgorzata Irek: Der Schmugglerzug Warschau - Berlin - Warschau. Materialien einer Feldforschung, Berlin 1998.

[2]: Magdalena Zowczak (Hg.): Na pograniczu "nowej Europy". Polsko-ukraińskie sąsiedztwo [An der Grenze des "Neuen Europa". Die polnisch-ukrainische Nachbarschaft], Warszawa 2010.

Jerzy Kochanowski