Rezension über:

Torsten Hiltmann: Les >autres< rois. Études sur la royauté comme notion hiérarchique dans la société au bas Moyen Âge et au début de l'époque moderne (= Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris; Bd. 5), München: Oldenbourg 2010, 175 S., ISBN 978-3-486-59141-5, EUR 19,80
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Rezension von:
Vanina Kopp
Pontifical Institute of Mediaeval Studies, Toronto
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Vanina Kopp: Rezension von: Torsten Hiltmann: Les >autres< rois. Études sur la royauté comme notion hiérarchique dans la société au bas Moyen Âge et au début de l'époque moderne, München: Oldenbourg 2010, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/10/17684.html


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Torsten Hiltmann: Les >autres< rois

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Die zwölf Beiträge in diesem Sammelband sind das Ergebnis einer im April 2007 zum Thema der "anderen" Könige im Deutschen Historischen Institut in Paris unter der Beteiligung von Marc Boone, Gert Melville und Martin Kintzinger gehaltenen Tagung. Gleichzeitig bildet die Thematik den Forschungsschwerpunkt des damaligen Pariser Organisators und Herausgebers, Torsten Hiltmann, der das Projekt als Juniorprofessor an der WWU Münster weiterverfolgt.

Nicht nur wegen des Tagungsortes, sondern auch aufgrund der Herkunft der vertretenen Forscherinnen und Forscher beinhaltet der Band neun Beiträge in französischer, zwei in englischer und einen in deutscher Sprache. Die vorgestellten Themen konzentrieren sich auf das späte Mittelalter und den Beginn der Frühen Neuzeit, geographisch erstrecken sie sich über das Königreich Frankreich mit Schwerpunkt Paris (Martine Clouzot, Franck Viltart, Katharina Simon-Muscheid, Marie Bouhaïk-Gironès), das flämische Burgund (Henri Simonneau, Anne-Laure van Bruaene) und Schottland (Katie Stevenson); einige Beiträge sind generalisierend angelegt (Torsten Hiltmann, Valérie Toureille, Dominik Fugger, Michel Pastoureau, Bertrand Schnerb). An die Beiträge von Franck Viltart und Henri Simonneau schließt sich eine Quellenedition an. Bemerkenswert für Sammelbände und deshalb erwähnenswert sind zudem zwei Stichwortregister.

Die einzelnen Beiträge sind einleitend in das Forschungsfeld der Herrschaftstheorie eingebettet, das unter dem Aspekt des "anderen" Königs, seiner Funktion und seines Kontextes eine neue Perspektive erhält. Anzumerken sind dennoch auf der formalen Ebene eine gewisse Heterogenität im Aufbau der Artikel und eine uneinheitliche Überschriftengebung sowie manche stilistische Schwerfälligkeit im französischen Einleitungstext. Auffällig ist auch auf der inhaltlichen Ebene das völlige Fehlen des biologischen Pendants des "anderen" Königs, der "anderen" Königin, deren Existenz und Rolle nur im Artikel von Pastoureau angesprochen wird. Ebenso hätte man gerne etwas über die "posthumen" oder "falschen" Könige [1] erfahren, doch würde dies wahrscheinlich die hier gewählte Forschungsachse sprengen.

Hiltmann umreißt in seiner Einleitung die Relevanz des Themas und die gewählten Zugänge. Mit diesem Sammelband will er zeigen, wie verbreitet das Königtum als hierarchisches Konzept im Spätmittelalter war, und illustrieren, dass neben dem "politischen" König auch zahlreiche "andere" Könige existierten (11). Diese "Könige" fügten sich in eine globale Tendenz der Spiegelung bestehender Organisationen der mittelalterlichen Gesellschaften ein, wie die "anderen" Abteien (17) oder die "anderen" Bischöfe (18). Der Herausgeber hebt hervor, dass in der bisherigen Forschung "andere" Könige, beispielsweise im Charivari, nur unter dem Aspekt der Verkehrung betrachtet worden seien (11f.) und dass ein Königtum neben dem "politischen" König gar als sozial übertragbares Konzept von Hierarchie undenkbar gewesen sei (20f.). Der Band setzt sich zum Ziel, dieses neue Forschungsfeld zu erkunden und somit einen unverzichtbaren und innovativen Beitrag zum Verständnis des Königtums in der Vormoderne zu leisten.

Der Band gliedert sich, neben der thematischen Einführung des Herausgebers, in drei Abschnitte: Der erste, "Rois de professions", widmet sich den Berufskönigen, denen qua Amt durch die Obrigkeit eine institutionalisierte Befugnis über eine genau umrissene soziale oder berufliche Gruppe (die Parlamentsnotare von Paris, die Herolde, die Zünfte, die Spielleute am Hof, aber auch die zwielichtigen Gestalten am Rande der städtischen und höfischen Gesellschaft) für eine feste Zeit verliehen wird. Wie der Gebrauch des Begriffes "Königs" und seine damit einhergehenden Machtbefugnisse zeigen, scheint hier die übliche hierarchische Ordnung der politischen Gesellschaft auf ein Berufsfeld oder eine fest als solche gekennzeichnete Personengruppe übertragen worden zu sein. Der König erhält nicht nur Machtbefugnisse, sondern übernimmt auch gleichzeitig Verantwortung für seine "Untertanen" und seinen Kompetenzbereich (interessanterweise zeigt Fugger in seinem Artikel, wie in den deutschsprachigen Regionen eher Vogt- oder Grafentitel vergeben wurden, was durchaus für die semantische Übertragung allgemein bekannter und erfahrbarer sozialer Ordnungen spricht).

Der Abschnitt "Rois festifs" beschreibt temporäre Könige, die von einer Ritualgemeinschaft für ein Ereignis gewählt wurden (wie zu Epiphanie der Bohnenkönig oder zu Karneval) oder zu anderen festlichen Ereignissen bestimmt wurden (wobei hier van Bruaene auch die Fest- "-Äbte", "-Bischöfe", "-Päpste" und "-Kaiser" miteinbezieht). Diese "Könige", die im Gegensatz zu jenen des ersten Abschnittes ihre Würde nicht von einer Obrigkeit erhielten, veranschaulichen, wie das Herrschaftskonzept als eine Art Selbstregulierungsmechanismus alle Gesellschaftsschichten durchdrang. Dieses hierarchische Modell führte zu einer die Gesellschaft ordnenden Stratifizierung und hierarchischen Konsolidierung.

Der "Ouvertures" genannte Abschnitt umreißt eine eher anthropologische Herangehensweise an zugeschriebene Königsherrschaft. Hierbei zeigen die Autorinnen und Autoren, wie durchdringend das Konzept des Königtums in der mittelalterlichen Gesellschaft war und wie es beispielsweise auf fiktive Personen (der literarisch-topische "König der Diebe" bei Toureille) oder auf immaterielle Bereiche (die Entwicklung der Figuren beim Schach, darunter auch der König bei Pastoureau) übertragen wurde. Diese beiden Beiträge stellen in den Augen der Rezensentin die anschlussfähigsten dar, denn sie zeigen die weite Verbreitung des Königskonzepts auch außerhalb eines institutionellen oder ereignisgebundenen Rahmens und unterstreichen umso deutlicher die vom Herausgeber vertretene These, dass das Königtum im Mittelalter in einer hohen Variabilität denkbar sowie auf die Gesellschaft und Ordnung übertragbar gewesen sei und der heutige Königsbegriff zu einer irreführenden, rein politischen Bedeutungsverengung führe. Diese mit dem vorliegenden Sammelband aufzubrechen, ist Ziel dieses Werkes. Die Zusammenschau dieser so unterschiedlichen "anderen" Könige, die sowohl am Königshofe selbst als auch im Brauchtum und in der Vorstellung der mittelalterlichen Gesellschaft anzutreffen waren, eröffnet einen neuen Blick auf das, was "König" und was "Königsherrschaft" im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit auch bedeuteten.


Anmerkung:

[1] Siehe beispielsweise Gilles Lecuppre: L'imposture politique. La seconde vie des rois, Paris 2005.

Vanina Kopp