Rezension über:

Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen: Wallstein 2011, 2 Bde., 1652 S., ISBN 978-3-8353-0929-6, EUR 79,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Andrea Löw
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löw: Rezension von: Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen: Wallstein 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/20995.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944

Textgröße: A A A

In seiner lange erwarteten Studie über die deutsche Besatzung Litauens 1941 bis 1944 bringt Christoph Dieckmann die Perspektiven und Erfahrungen von Deutschen, Litauern und Juden zusammen, untersucht ihre Beziehungen zueinander und leistet so eine multiperspektivische, monumentale Gesamtdarstellung. Dieckmann analysiert die verschiedenen Erwartungen dieser Gruppen, ihre Wahrnehmungen der anderen, ihre Handlungsspielräume und Reaktionen.

Eine solch umfassende Untersuchung der deutschen Besatzung einer Region bzw. eines Landes ist bisher einzigartig und hier setzt Dieckmann Maßstäbe. Allerdings werden die mehr als 1600 Seiten und der ungeheure Materialreichtum möglicherweise manchen Interessierten abschrecken. Mitunter hat das Buch fast enzyklopädischen Charakter; vielleicht werden die meisten Leserinnen und Leser sich spezielle Themen oder Regionen heraussuchen und die betreffenden Teile lesen oder sich auf die kompakten Zusammenfassungen beschränken.

Die Darstellung geht bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und zur Entstehung des unabhängigen Litauen zurück. Nach einer Analyse der deutschen Entscheidungen zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und dessen Vorbereitung stellt Dieckmann detailliert die deutsche Besatzungsherrschaft in Litauen und die für sie notwendige litauische Kooperation dar. Zwar war das deutsch-litauische Verhältnis keineswegs ein gutes, vor allem in wirtschaftlichen Bereichen gab es divergierende Interessen und zunehmende Spannungen: "Aber beide bildeten eine hinreichend stabile Koalition, sofern es gegen gemeinsame Feinde, so gegen Juden und Russen, ging." (537) Den Massenverbrechen gegen diese gemeinsamen Feinde ist der umfangreiche zweite Band der Studie gewidmet. Dieckmann betont, dass diese Verbrechen nur im Kontext der deutschen Besatzungspolitik und Kriegsführung und deren "wechselseitigem Zusammenhang" (789) erklärt werden können. Stets in diesem Kontext erläutert der Autor in der Folge die Gewaltverbrechen und auch die litauische Beteiligung an diesen.

Er diskutiert Fragen der Motivation auf Seiten der Beteiligten, immer wieder geht es ihm um Handlungsspielräume und wie diese genutzt wurden. Das Machtgefälle war groß zwischen Deutschen und auch Litauern auf der einen und den Verfolgten auf der anderen Seite: "Die Juden Litauens, die Kriegsgefangenen oder die Zwangsevakuierten hatten kaum kollektive, praktikable Handlungsmöglichkeiten", sondern nur in sehr begrenztem Maße "individuelle Auswege" (791). Doch auch diese sehr begrenzten Optionen lotet Dieckmann genauestens aus, und gerade die komplizierten Fragen wie etwa die Handlungsweisen und Interpretationen der Judenräte (und deren "unlösbares Dilemma", 952) oder die Diskussionen über Widerstand thematisiert er äußerst sensibel und auf der Basis einer immensen Quellenkenntnis.

Der Verfasser lässt keinerlei Zweifel daran, dass die Hauptverantwortlichen für Massenmord und Terror die deutschen Besatzer, also Angehörige der Zivilverwaltung und des SS- und Polizeiapparates, waren. Diese trafen die Entscheidungen, waren die zentralen treibenden Kräfte. Doch fanden sie, und auch das ist Thema der Studie, innerhalb der litauischen Gesellschaft eine "enorme Kooperationsbereitschaft" vor. Wirtschaftliche Anreize (Bereicherung "war eines der wichtigsten Bindemittel zwischen Besatzungsmacht und besetzter Gesellschaft", 1533) spielten dabei ebenso eine Rolle wie Antisemitismus und ein extremer Nationalismus. Dieckmann vermeidet auch hier monokausale Erklärungen.

Nachdem, anders als im besetzten Polen, in Litauen schon vor der Errichtung der Gettos weite Teile der jüdischen Bevölkerung ermordet worden waren, lebten 1942/43 gut 48.000 Juden in den Gettos. [1] In dieser Phase, nach dem Aussetzen der Massenmorde, stabilisierte sich das Leben in den Gettos etwas und die Menschen gingen daran, unter den vollkommen neuen und chaotischen Bedingungen dieses Leben neu zu organisieren. Dieckmann schildert, wie die jüdische Bevölkerung nach "Normalität" strebte und versuchte, sich eine Art von "Alltag" zu schaffen. Er zitiert einen Überlebenden: "Normal bedeutete für uns die Abwesenheit von Massakern und Deportationen." (1050) Und auch hier thematisiert er die komplizierten Fragen nach Handlungs- oder Wahlmöglichkeiten, die für die jüdische Bevölkerung während des Holocaust im Grunde "choiceless choices" (Lawrence Langer) waren: "Die Deutschen hatten die Juden in eine Lage gezwungen, in der jede klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse unmöglich wurde. Jede Entscheidung hatte einen übergroßen Preis zur Folge, moralisch unlösbare Fragen stellten sich." (1051)

Dieckmann fragt nach den Beziehungen innerhalb der Gettos und auch denen zwischen den Gettos und ihrer Umgebung. Während Quellen, die die litauische Sicht auf das Getto dokumentieren, weitgehend fehlen, zeichnet sich die Studie für die Frage des jüdischen Lebens in den Gettos durch einen großen Quellenreichtum aus. Gerade aus diesen eindrucksvollen Quellen der jüdischen Bevölkerung Litauens - die teilweise bereits in den Gettos bewusst zu Dokumentationszwecken geschaffen wurden - zitiert der Verfasser sehr ausführlich und macht viele von ihnen damit erstmals einer deutschen Leserschaft zugänglich. Überhaupt ist ein Wort zu den Quellen, die der Arbeit zugrunde liegen, angemessen: Sie stammen aus Archiven in Deutschland, Litauen, Lettland, Russland, Großbritannien, den USA und Israel, daneben stützt sich der Autor auf eine ungeheure Zahl gedruckter Quellen, Erinnerungen und Literatur, die die deutsche, litauische und die jüdische Perspektive so umfassend wie möglich dokumentieren. Einzig die Wahrnehmungen des polnischen Bevölkerungsteils konnte keinen Eingang in die Untersuchung finden, doch Quellen und Literatur auf Deutsch, Litauisch, Russisch, Englisch, Jiddisch und Hebräisch hat Dieckmann hier zusammengeführt. Yad Vashem hat die Leistung von Christoph Dieckmann zu Recht im letzten Jahr mit seinem Internationalen Buchpreis für Holocaustforschung ausgezeichnet.


Anmerkung:

[1] Von über 200.000 Juden in Litauen erlebten nur 9-10.000 das Kriegsende (1538).

Andrea Löw