Rezension über:

Jan Surmann: Shoah-Erinnerung und Restitution. Die US-Geschichtspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 46), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 302 S., ISBN 978-3-515-10157-8, EUR 49,00
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Rezension von:
Jacob S. Eder
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Jacob S. Eder: Rezension von: Jan Surmann: Shoah-Erinnerung und Restitution. Die US-Geschichtspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/22205.html


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Jan Surmann: Shoah-Erinnerung und Restitution

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Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der damit verbundenen politischen und wirtschaftlichen Neuordnung Europas wurden bis dann ungeklärte Fragen der Entschädigung von Holocaust-Überlebenden aktuell. Die Teilung Europas und das Bündnissystem des Kalten Krieges hatten zuvor eine große Anzahl von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Raubpolitik - zumal in Osteuropa - von Restitution oder Entschädigung ausgeschlossen. [1] In der vorliegenden Studie untersucht der Zeithistoriker Jan Surmann, wieso diese Frage gerade in den USA große Aufmerksamkeit erhielt und wie sie zum Gegenstand der (geschichts-)politischen Agenda der Clinton-Regierung werden konnte. Für seine Erfurter Dissertation, auf der das Buch basiert, erhielt er 2010 den Franz Steiner Preis für deutsch-amerikanische Studien.

In sieben thematischen Kapiteln untersucht Surmann die amerikanische Restitutionspolitik und erkennt dabei eine "allmähliche[...] Verschiebung der materiellen Aufarbeitung der ungeklärten Restitutions- und Entschädigungsfragen hin zu Erinnerungsfragen" (16). Dabei geht er chronologisch vor und erläutert knapp die Entstehung einer amerikanischen Holocaust-Erinnerungskultur sowie den historischen Hintergrund der ungeklärten Vermögensfragen. Im Folgenden richtet sich sein Blick vor allem auf Osteuropa. Nach der Wiedereinführung des Privateigentums konnte hier nun das geraubte und dann verstaatlichte jüdische Eigentum zurückgefordert werden, wobei die 1992 in den USA gegründete World Jewish Restitution Organization zum maßgeblichen Akteur avancierte. Die Clinton-Regierung unterstützte diese Forderungen und verlieh ihnen durch die Ernennung von Stuart E. Eizenstat zum Sondergesandten für Eigentumsfragen in Ost- und Mitteleuropa zusätzliches Gewicht. Dieser setzte sich mit großem Nachdruck für die Klärung des "unfinished business" des 20. Jahrhunderts ein. In Osteuropa fügte sich diese Politik in die größeren geostrategischen Interessen der USA ein, nämlich die Etablierung freier marktwirtschaftlicher Demokratien und die Schaffung politischer Stabilität sowie die Wahrung von Minderheiten- und Menschenrechten.

Bevor Surmann in einem kurzen Kapitel weitere Fälle des "unfinished business" in Westeuropa - zum Beispiel die Zwangsarbeiterentschädigung durch die deutsche Industrie oder Sammelklagen gegen Banken in Frankreich - zusammenfasst, widmet er sich im vierten Kapitel ausführlich dem Fall Schweiz, dem eigentlichen Kern der Studie. Auf rund 70 Seiten beschreibt er detailliert die Positionen und Ziele der amerikanischen Akteure sowie deren teils recht komplexes Verhältnis zueinander. Akribisch zeichnet er die vom World Jewish Congress angestoßenen Debatten über "nachrichtenlose Konten" von Holocaust-Überlebenden und sogenanntes "Opfergold" nach. Er untersucht die restitutionspolitischen Bemühungen einzelner amerikanischer Bundesstaaten sowie eine Reihe von Sammelklagen gegen Schweizer Banken, die letztlich nach zähen Verhandlungen mit einem Vergleich und der Bereitstellung von 1,25 Milliarden US-Dollar für die Opfer endeten.

Im Zentrum der Argumentation steht dabei Surmanns These, wonach sich mit der geographischen Ausweitung der amerikanischen Restitutionspolitik auch deren Ziele verändert hätten. Hätten in Osteuropa noch vornehmlich restitutionspolitische und wirtschaftliche Ziele auf der Agenda gestanden, sei es in der Auseinandersetzung mit ehemaligen neutralen bzw. alliierten Staaten zusätzlich um eine wesentlich umfangreichere Geschichtspolitik gegangen. Surmann argumentiert hier, dass die amerikanische Politik nicht nur die Rückgabe geraubten Vermögens zum Ziel hatte. Sie habe die betroffenen Staaten auch dazu bringen wollen, moralische Verantwortung zu übernehmen, ihre "überkommene[n] Geschichtsbilder der Nachkriegszeit" zu überdenken und die wirtschaftliche Kollaboration mit dem NS-Regime in "nationale[...] Geschichtsnarrativ[e]" zu integrieren (81).

Im sechsten Kapitel wendet sich Surmann den USA als Gegenstand der Debatten um das "unfinished business" zu und beleuchtet knapp den Umgang mit geraubten Vermögenswerten und der Kollaboration amerikanischer Industriekonzerne mit dem NS-Regime. Zur Klärung dieser Fragen und auch, um den moralischen Führungsanspruch in Restitutionsfragen zu wahren, setzte die Clinton-Regierung 1998 eine historische Kommission ein. Diese habe zwar Restitutionsdefizite kritisiert. Da der unter Zeitdruck zusammengestellte Abschlussbericht lediglich auf staatliche Instanzen und nicht auf die amerikanische Privatwirtschaft eingegangen sei, habe er allerdings eher symbolischen Charakter gehabt. Hierin erkennt Surmann ein deutliches Indiz für die weitere Schwerpunktverlagerung von "money to memory" (215), die dann auch im letzten Kapitel beleuchtet wird.

In diesem zeichnet Surmann durch die Analyse dreier Konferenzen - London (1997), Washington (1998) und Stockholm (2000) - den Wandel der politischen Ziele der Clinton-Regierung nach. Demnach verdeutlichten die Konferenzen, die sich dem Raubgold, anderen geraubten Vermögenswerten sowie den "Lehren" aus dem Holocaust für die Gegenwart widmeten, den Übergang von der Beseitigung restitutionspolitischer Defizite hin zu erinnerungspolitischen und pädagogischen Zielen. Auch wenn man diese Entwicklung nicht allein auf das Konto der Clinton-Regierung verbuchen kann, deckte sie sich laut Surmann mit amerikanischen geschichtspolitischen Zielen. Durch die "Lehren" des Holocausts sollten "die Menschenrechte als zentrale[r] Wert westlicher Gesellschaften" gestärkt und somit auch deren "innere[r] Zusammenhalt" gefestigt werden (233). Letztlich, so das Resümee, trugen die USA also maßgeblich dazu bei, dass nach Ende des Kalten Kriegs die Opfer des NS-Regimes ein neues Maß an Aufmerksamkeit erhielten, ihre systematische Ausraubung wurde in das Narrativ des Holocaust integriert und dieser konnte gleichsam zum negativen "Gründungsmythos" (252) des Westens werden.

Surmanns Buch beweist eindrücklich, dass man auch die allerjüngste Zeitgeschichte auf breiter Quellenbasis schreiben kann. Neben einer Fülle an publizierten Quellen und zahlreichen Interviews mit den Akteuren, greift er umfassend auf bereits entsperrte Archivquellen zurück. Zu bemängeln ist hingegen eine gewisse Disparität in der Art der Darstellung. Denn während die teilweise äußerst exakte Rekonstruktion der komplizierten Entschädigungsverhandlungen oft etwas blutleer wirkt, erfordern die interpretativen Passagen aufgrund Surmanns redundanter Argumentationsweise einiges an Geduld. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auf nur rund fünf Seiten zum "Geist von Stockholm" (242-7) findet sich der Schluss, der Holocaust diene seit den 90er Jahren der westlichen Welt als negativer "Referenzpunkt", "Exemplum", "Schablone", "Code", "Antipode", "Antithese", "Imperativ", etc. sage und schreibe mehr als fünfzehn Mal. Dem Leser tut man damit keinen Gefallen.

Nichtsdestotrotz besticht Surmanns Buch als empirische Fallstudie zur "Universalisierung" und "Entkontextualisierung" des Holocaust. Eine Reihe von Autoren/innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass der Holocaust in der westlichen Welt zu einem Symbol für Massenmord und Menschenrechtsverletzungen sowie zum allgemeinen Referenzpunkt für Opfergruppen geworden ist, sein historischer Kontext im öffentlichen Diskurs und der Erinnerung aber mehr und mehr in den Hintergrund tritt. [2] Es ist das große Verdienst Jan Surmanns, die beschleunigende Wirkung der amerikanischen Restitutionspolitik auf diesen Wandel herausgearbeitet zu haben.


Anmerkungen:

[1] Zur Rolle der Bundesrepublik umfassend: Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, 413-475.

[2] Siehe dazu unter anderem: Jan Eckel / Claudia Moisel: Einleitung, in: Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, hgg. von Jan Eckel / Claudia Moisel, Göttingen 2008, 9-25 und grundlegend Daniel Levy / Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt 2001.

Jacob S. Eder