Rezension über:

Oliver Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär. Individuelle Handlungsspielräume im System. Eine politische Biographie (= Düsseldorfer Historische Studien; Bd. 1), Düsseldorf: düsseldorf university press 2013, 511 S., ISBN 978-3-943460-41-4, EUR 24,80
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Rezension von:
Rainer Karlsch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Karlsch: Rezension von: Oliver Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär. Individuelle Handlungsspielräume im System. Eine politische Biographie, Düsseldorf: düsseldorf university press 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/12/23980.html


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Oliver Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär

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Der Name Fritz Selbmann taucht in den meisten Darstellungen zur Geschichte der DDR zumeist im Zusammenhang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 auf. Als einziger hoher SED-Funktionär stellte sich Selbmann vor dem Haus der Ministerien (heute Sitz des Bundesfinanzministeriums) den streikenden Arbeitern. Sein Beschwichtigungsversuch scheiterte. Auch Oliver Kiechle beginnt sein Buch mit einem Prolog über dieses schon mehrfach, nicht zuletzt von Selbmann selbst, dargestellte und verschieden interpretierte Schlüsselereignis. Dabei klingen mehrere Aspekte des Lebensweges von Fritz Selbmann an: Arbeiter, Antifaschist, Industrieminister und Schriftsteller.

Endlich ist nun eine wissenschaftliche Biographie über diesen streitbaren Kommunisten erschienen. Um es vorwegzunehmen: Die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie ist gründlich recherchiert und gut geschrieben. Oliver Kiechle gelingt es, die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe zu seinem Protagonisten zu halten. Er beschreibt Selbmanns Weg vorurteilsfrei, wägt seine Wertungen ab und lässt Fragen offen, die sich nicht eindeutig beantworten lassen. Kielche zeichnet Selbmanns Lebensweg in acht Kapiteln nach und konzentriert sich dabei auf sein Wirken als KPD-Funktionär, seine wechselvolle Tätigkeit als Minister und seinen erstaunlichen Erfolg als Schriftsteller. Familiäres kommt leider etwas zu kurz, was aber nicht den Intentionen des Autors, sondern der spärlichen Quellenlage geschuldet ist.

Trotz seiner eingeschränkten Sehfähigkeit wurde Fritz Selbmann im Mai 1917 eingezogen und erlebte die Grauen des Ersten Weltkrieges an der Westfront. Dies war ein entscheidender Anstoß für seine Hinwendung zur USPD und ab Ende 1922 zur KPD. Die Partei wurde seine eigentliche Heimat und bot ihm als hauptberuflichem Funktionär ein, wenn auch karges, Auskommen. Vieles bisher Unbekannte hat Kiechle über Selbmanns Wirken im Rotfrontkämpferbund (RFB) und als Bezirksleiter der KPD in Oberschlesien und Sachsen herausgefunden. Er entwirft das Bild eines überaus selbstbewussten und disziplinierten jungen Mannes, der sich ganz der kommunistischen Sache verschrieb. Das Kapitel über Selbmanns Weimarer Jahre bietet den größten Erkenntnisgewinn. Die lange Haftzeit Selbmanns in den Jahren der NS-Diktatur lässt sich hauptsächlich anhand seiner Selbstzeugnisse rekonstruieren. Nur dank seiner robusten Natur, der Solidarität von Mithäftlingen und viel Glück überlebte Selbmann - de facto vom Reichsführer SS Heinrich Himmler gemeinsam mit 17 anderen führenden politischen Häftlingen des KZ Sachsenhausen im Herbst 1942 zum Tode verurteilt - Gefängnisse und Konzentrationslager. Seine tatsächliche Rolle innerhalb der kommunistischen Bewegung in den Konzentrationslagern, so Kiechle, bleibt unklar. Nachträgliche Aussagen von Mithäftlingen waren widersprüchlich und unterlagen später oft auch parteipolitischen Rücksichtnahmen, um das Bild vom einheitlichen kommunistischen Widerstand nicht zu diskreditieren.

Nach Kriegsende war Selbmann zunächst in Leipzig politisch tätig, bevor er von der KPD-Führung als Minister für Wirtschaft und Arbeit in die Landesverwaltung Sachsen entsandt wurde. Vor allem dank der Forschungen von Winfrid Halder ist Selbmanns zentrale Rolle in der Landesverwaltung, bei der Verstaatlichung großer Teile der Industrie und beim Übergang zur Planwirtschaft gut erforscht. [1] Kennern ist der weitere konfliktreiche Werdegang Selbmanns als Minister bekannt: der Aufbau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO), Ulbrichts letztlich vergeblicher Versuch, gegen Selbmann einen Schauprozess anzustrengen, der 17. Juni 1953, der Aufbau des Kombinats Schwarze Pumpe, Selbmanns Rolle als Vorstandsvorsitzender der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut, seine Begeisterung für die Kernenergie, seine Tätigkeit im DDR-Forschungsrat und die politischen Ränkespiele, die 1958 zu seiner Kaltstellung führten. All dies wird von Kiechle gekonnt erzählt und stimmig ins Zeitgeschehen eingeordnet.

Einige Entscheidungen Selbmanns, die für einzelne Betriebe bzw. Branchen Folgen hatten, werden von Kiechle nicht behandelt. Dies betrifft sein Eintreten für die Beibehaltung der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena im Juni 1948, seine Schlüsselrolle bei der Verabschiedung der umstrittenen Energiewirtschaftsverordnung vom 22. Juni 1949 und seine Unterstützung für den Abschluss eines geheimen Warenzeichenabkommens im Jahr 1956 zwischen der Filmfabrik Agfa Wolfen und der Agfa AG Leverkusen. Im Fall der Warenzeichen bewies Selbmann mehr Weitsicht als die meisten anderen Wirtschaftsfunktionäre und reizte seine Handlungsspielräume als Minister voll aus.

Selbmann gehörte 1957/58 zu den Kritikern der Wirtschaftspolitik Ulbrichts. Ob er eine wirkliche Reformkonzeption besaß, ist strittig. Kiechle vermutet dies, ohne dafür schlüssige Belege zu liefern. Richtig ist, dass Selbmann mehr Pragmatismus in der Wirtschaftsplanung einforderte, als die SED-Führung wieder einmal im Begriff stand, Wunschpläne zu verabschieden. Es blieb ihm jedoch verwehrt, einen Gegenentwurf zur bisherigen Industriepolitik zu formulieren, die er ja bis dahin maßgeblich mit konzipiert und umgesetzt hatte. Er sympathisierte mit den Reformgedanken der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Behrens und Arne Benary. Doch dies allein ist kein Beweis für ein Reformkonzept. Walter Ulbricht selbst stellte sich 1963 an die Spitze der Reformer und griff Teile der Vorschläge der 1957/58 verfemten Wirtschaftswissenschaftler auf.

Im vorletzten Kapitel stellt Kiechle die Entstehungsgeschichten der wichtigsten Romane Selbmanns vor, ohne sich an eine literaturwissenschaftliche Analyse zu wagen. Er konzentriert sich stattdessen auf die Darstellung der Auseinandersetzungen um die Drucklegung der Bücher Selbmanns und hat auch dazu Interessantes zu berichten. An mehreren Stellen unterbricht Kiechle die Chronologie, um übergreifende Themen, wie Selbmanns freundschaftliches, aber nicht konfliktfreies Verhältnis zu Ernst Thälmann, seine Jagdleidenschaft und seinen distanzierten Umgang mit Mitarbeitern des MfS prägnant und knapp zu beschreiben.

Gekonnt fasst Kiechle auf wenigen Seiten seine Erkenntnisse zusammen. Selbmanns Rang in der Parteihierarchie war durchgehend niedriger, als es seine jeweilige Position im Staatsapparat nahegelegt hätte. Dies verhinderte seinen weiteren Aufstieg. Gegen die Partei kam Selbmann nicht an und wollte es auch nicht. Für ihn war die DDR, trotz aller Fehler, der bestmögliche Staat. In seiner Tätigkeit als Schriftsteller fand Selbmann eine späte Berufung, er genoss die dabei letztendlich größeren Gestaltungsspielräume als zuvor.

Zu monieren sind nur Kleinigkeiten: Die von der Staatlichen Plankommission und dem Ministerium für Schwerindustrie ausgearbeitete "Verordnung zur Regelung der Energieversorgung" wurde vom Ministerrat bereits am 29. März 1951 erlassen und nicht erst im Oktober 1953. Selbmann hatte sich schon als Minister für Schwerindustrie maßgeblich an der Ausarbeitung der besagten Verordnung beteiligt. Im April 1953 wurden die Reparationsverpflichtungen der DDR von der UdSSR nicht gekürzt, sondern es wurden nur Umschichtungen im Reparationsplan vorgenommen. Heinrich Rau war 1953 nicht mehr Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, sondern Stellvertretender Ministerpräsident. Fritz Selbmann war ab 1954 Vorstandsvorsitzender der SDAG Wismut, und nicht der Wismut AG. Davon ganz unbenommen demonstriert Oliver Kiechle hervorragend, welch substanziellen Beitrag ein biografischer Forschungsansatz zur Zeitgeschichtsschreibung zu leisten vermag. Seinem Buch ist ein großer Leserkreis zu wünschen.


Anmerkung:

[1] Vgl. Winfrid Halder: "Modell für Deutschland". Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945-1948, Paderborn u.a. 2001.

Rainer Karlsch