Rezension über:

Oliver Bange / Bernd Lemke (Hgg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990 (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 75), München: Oldenbourg 2013, XI + 404 S., ISBN 978-3-486-71719-8, EUR 44,95
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Oliver Bange / Bernd Lemke (Hgg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990, München: Oldenbourg 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/24064.html


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Oliver Bange / Bernd Lemke (Hgg.): Wege zur Wiedervereinigung

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Die Wiedervereinigung Deutschlands und ihre Vorgeschichte sind schon unter den unterschiedlichsten Aspekten thematisiert worden. Der von Oliver Bange und Bernd Lemke herausgegebene Band unterscheidet sich jedoch von anderen einschlägigen Veröffentlichungen, denn er behandelt nicht nur die unmittelbare Vorgeschichte, sondern geht bis in die 1970er Jahre zurück und bettet zudem die deutsch-deutsche Geschichte konsequent in den Kontext des Ost-West-Konflikts ein. Das auf eine Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts von 2010 zurückgehende Sammelwerk nimmt insbesondere "die sicherheits- und militärpolitische Dimension sowie die deutschen und deutschlandpolitischen Bezüge" in den Blick (6). Der in der Einleitung formulierte Anspruch, jeden thematischen Abschnitt mit je einem Beitrag zur West- bzw. zur Ost-Sicht und einem weiteren auszustatten, "der die blockübergreifende Qualität des Themas verdeutlichen soll" (7), wird allerdings nur im ersten Kapitel eingelöst. Auffallend an der Einleitung der beiden Herausgeber ist die dezidierte Ablehnung des Begriffs "Kalter Krieg" für die Systemkonfrontation zwischen 1945 und 1989/91 und das Plädoyer, diesen durch "Ost-West-Konflikt" zu ersetzen (13), was möglich, meines Erachtens aber nicht nötig ist. Denn obwohl sich in dessen Gesamtverlauf immer wieder Spannungs- mit Entspannungsphasen abwechselten, gab es doch eine Grundkonstante, die dem Kalten Krieg zwar gewisse Grenzen setzte, ihn aber zugleich am Leben erhielt: die Verfügungsgewalt über Atomwaffen durch die Supermächte.

Zu Beginn bettet Gottfried Niedhart die deutsche Frage in den Kontext des Ost-West-Konflikts beim Übergang zur Entspannungspolitik in den 1960er Jahren ein. Auffällig ist der hohe Stellenwert, den er dem 1969 einsetzenden KSZE-Prozess beimisst, der "das Gesicht Europas" verändert habe (36). Daran knüpft das erste Kapitel über den Weg in die Entspannungspolitik nahtlos an, in dem Csaba Békés zunächst die Ost-Perspektive auf wenig präzise Weise beleuchtet. Sein Beitrag enthält allerdings eine Reihe unbekannter Einzelheiten, so etwa zur ungarischen Politik, die durch eine Intervention bei der sowjetischen Führung und durch ein Schreiben an Bundeskanzler Schmidt im Jahre 1980 dazu beitrug, dass in Europa trotz der sowjetischen Intervention in Afghanistan ein "Zweiter Kalter Krieg" vermieden wurde. Stephan Kieninger vertritt die These, dass in den 1970er Jahren im Westen ein Wettbewerb zwischen der "Status-quo-Détente im Weißen Haus und der Transformationspolitik des Netzwerks aus Westeuropäern und Bridge Buildern im State Department" (74) stattgefunden habe, und hebt dabei ebenfalls die bedeutende Rolle des KSZE-Prozesses hervor. Ob allerdings die "Entspannungskrise" - also der "Zweite Kalte Krieg" - durch den KSZE-Prozess überwunden wurde (82), ist zweifelhaft: Er trug sicher dazu bei, ausschlaggebend war dafür jedoch der Wandel der Politik der Supermächte ab 1984/85. Oliver Bange schließlich untersucht in einem sehr fußnotenlastigen Beitrag den "KSZE-Prozess und die sicherheitspolitische Dynamik des Ost-West-Konflikts". Er enthält sehr viel Allgemeines, das Bange bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat, wodurch seine interessanten Bemerkungen zur militärischen Détente im KSZE-Prozess leider etwas zu kurz kommen.

Das Kapitel "Krisen und ihre Folgen" wird durch einen eher mäßigen Beitrag von Wanda Jarzą bek zur polnischen Krise von 1980/81 eingeleitet, der kaum neue Erkenntnisse enthält und im Hinblick auf die sowjetische Interventionsabsicht - die es nachweislich nicht gab - hinter dem Forschungsstand zurückbleibt. Mark Kramers Aufsatz entlarvt die These, dass 1983 das NATO-Stabsmanöver "Able Archer 83" von sowjetischer Seite für die Verschleierung einer atomaren Aggression gehalten worden sei, überzeugend als Legende. Weder aus den sowjetischen Akten noch aus der Befragung sowjetischer Entscheidungsträger konnte er Hinweise gewinnen, dass die sowjetische Führung damals mit einem unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Nuklearangriff rechnete.

Im Rahmen des dritten, den beiden Bündnissen und ihren deutschen Mitgliedern gewidmeten Kapitels untersucht zunächst Tim Geiger die Rolle der Bundesrepublik in der NATO. Dabei geht er nicht nur allgemein auf die relative militärische Stärke der Bundesrepublik im Vergleich zu den anderen NATO-Staaten ein. Darüber hinaus stieg Geiger zufolge auch das westdeutsche Gewicht aufgrund der Übernahme zusätzlicher Verpflichtungen 1974/75 angesichts der Krisen an der NATO-Südflanke. Erst vor diesem Hintergrund kam der Bundesrepublik bei der Vorbereitung des Doppelbeschlusses und in den 1980er Jahren auch eine führende Rolle in der NATO zu. Dabei tat sie allerdings "gut daran, ihre tatsächliche Machtposition so selten wie möglich coram publico auszuspielen und stattdessen die kooperative Rolle in der NATO [...] voranzustellen" (182). Gegenüber diesem gelungenen Aufsatz fällt der Beitrag von Jordan Baev deutlich ab, in dem, anders als im Titel angekündigt, weder die "blockinterne Kooperation" noch die Rolle der DDR im Warschauer Pakt klar herausgearbeitet wird. Die Ausführungen von Heiner Möllers zur parlamentarischen Debatte und zur medialen Berichterstattung über den NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik sind zwar zuverlässig, aber alles andere als überraschend. Zu der damaligen These, dass mit der erregten innenpolitischen Debatte und Polarisierung der sicherheitspolitische Konsens zerstört, und zu der jüngst von Philipp Gassert formulierten Gegenthese, dass infolge dieser Debatten der demokratische Grundkonsens in der Bundesrepublik "eher befestigt als aus den Angeln gehoben" worden sei [1], äußert sich Möllers leider nicht.

Holger Nehring möchte im Rahmen des vierten Kapitels, das der Interdependenz von innerer und äußerer Sicherheit gewidmet ist, "eine neue Einschätzung der Rolle der Friedensbewegungen am Ende des Kalten Kriegs" präsentieren, die dazu beigetragen hätten, "das Denken über Frieden und Krieg sowie über die Rolle von Gewaltlosigkeit bei der Lösung und Handhabung innenpolitischer und internationaler Konflikte innerhalb der deutschen Gesellschaften zu verändern" (224 f.). Freilich neigt er dazu, den Einfluss des "Friedensaktivismus" (236) in der Bundesrepublik zu überschätzen, und dazu, Bundesrepublik und DDR in unzulässiger Weise gleichzusetzen. Überdies sind seine Aussagen, dass das System der DDR "eine gewisse innenpolitische Legitimität aufwies" und dass Honecker aufgrund der auf die Friedensgruppen zurückgehenden politischen Kultur der "Gewaltlosigkeit" in der DDR "über die Stationierung weiterer sowjetischer Kernwaffen auf DDR-Boden alles andere als begeistert" war (242), unzutreffend: Der DDR mangelte es stets an innenpolitischer Legitimität, und Honecker lehnte die Verschärfung des Kalten Krieges vor allem deshalb ab, weil er eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik befürchtete, auf deren Aufrechterhaltung er dringend angewiesen war. Rainer Eckert gibt einen allgemeinen Überblick über Opposition und Widerstand in der DDR, ohne allerdings zu verdeutlichen, welche Rolle diesen im Zusammenspiel von Innen- und Außenpolitik zukam.

Viel Neues enthält das Kapitel zu den operativen Planungen von Warschauer Pakt und NATO. Siegfried Lautsch zeigt, wie sich der Wandel der Warschauer-Pakt-Strategie von der "Offensiv-Verteidigung" zur Defensive auch in der NVA-Operationsplanung für Norddeutschland zwischen 1983 und 1988 niederschlug. Helmut Hammerich beleuchtet demgegenüber die Operationsplanungen der NATO im selben Raum in den 1970er und 1980er Jahren. Bemerkenswert daran ist, dass ein Einsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen angesichts der Überlegenheit der Warschauer-Pakt-Truppen schon zu einem recht frühen Zeitpunkt einkalkuliert wurde.

Das abschließende Kapitel vereint unter dem vielversprechenden Titel "Bundesrepublik und DDR in globaler Perspektive" drei sehr heterogene Beiträge zu den militärischen Beziehungen der beiden deutschen Staaten zum Sudan (Roman Deckert), zu den Militärhilfen der DDR für die Dritte Welt (Klaus Storkmann) sowie zur ost- und westdeutschen Außenpolitik gegenüber Namibia (Jason Verber).

Trotz des methodisch reizvollen Ansatzes, die deutsch-deutsche Geschichte in den beiden letzten Jahrzehnten des Systemkonflikts vor allem aus sicherheitspolitischer Perspektive zu betrachten, ist das Gesamtergebnis nur teilweise überzeugend. Das liegt zum einen an der mangelnden Qualität einer Reihe von Beiträgen und zum anderen daran, dass die Beiträger in den einzelnen Kapiteln den Vorgaben der Herausgeber offensichtlich nicht immer gefolgt sind.


Anmerkung:

[1] Philipp Gassert: Viel Lärm um Nichts? Der NATO-Doppelbeschluss als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung in der Bundesrepublik, in: Ders./ Tim Geiger /Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011, 175-202, hier 200.

Hermann Wentker