Rezension über:

Patrick Wright: On Living in an OId Country. The National Past in Contemporary Britain, Oxford: Oxford University Press 2009, XXVII + 290 S., ISBN 978-0-19-954195-9, USD 19,95
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Rezension von:
Martina Steber
München
Redaktionelle Betreuung:
Torsten Riotte
Empfohlene Zitierweise:
Martina Steber: Rezension von: Patrick Wright: On Living in an OId Country. The National Past in Contemporary Britain, Oxford: Oxford University Press 2009, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/18330.html


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Patrick Wright: On Living in an OId Country

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Als "On Living in an Old Country" 1986 erschien, traf es einen Nerv. Patrick Wrights Sammlung von sechs bereits zwischen 1980 und 1985 in diversen Zeitschriften veröffentlichten Essays setzte in der britischen intellektuellen Öffentlichkeit eine Debatte über den Umgang mit der Nationalgeschichte in Gang, die unter dem Label der "heritage debate" selbst in die Geschichtsbücher einzog. [1] Aus diesem Grund hat sich Oxford University Press wohl zu einer Neuauflage entschlossen, versehen mit einem Vorwort Wrights, das den Gang der Debatte um das Buch rekapituliert und seine Aktualität mehr als zwanzig Jahre nach der Abfassung unterstreicht.

"On Living in an Old Country" ist ganz unverkennbar ein britisches Buch der frühen 1980er Jahre. Mit geradezu ethnographischem Blick entschlüsselt der Journalist und Kulturtheoretiker Wright nach seiner Rückkehr von einem mehrjährigen Kanada-Aufenthalt die Geschichtsversessenheit seiner Landsleute. Einprägsame Beispiele leiten ihn in seiner kulturtheoretischen Entschlüsselungsarbeit: Er analysiert die Romane Mary Butts (1890-1937) aus der Zwischenkriegszeit, die National Heritage Bill 1980, die Hebung der Mary Rose 1982 (eines im 16. Jahrhundert gesunkenen Tudor-Schiffs), die Geschichte von May Alice Savidge, die sich Stadtentwicklungsplanungen widersetzte und mitsamt ihrem historischen Hauses umzog, und die Gentrifizierung des Londoner Stadtteils Stoke Newington. Eine kulturtheoretisch inspirierte Einleitung bindet die Essays argumentativ aneinander.

Wie ist es zu erklären, fragt Wright Anfang der 1980er Jahre, dass Objekte des Alltags zum Inbegriff nationaler Geschichte verklärt werden und ihre "Rettung" breite Unterstützung mobilisiert, dass Verbände wie der National Trust oder Save Britain's Heritage boomen, die sich der Bewahrung des "national heritage" verschrieben haben, und dass "heritage" innerhalb weniger Jahre zum politischen Schlagwort werden konnte. Wrights Antwort ist die des linken Kulturkritikers. Sie ist an erster Stelle inspiriert von Agnes Hellers Kulturtheorie des Alltags, einer Schülerin Georg Lukács'.

Hinter der britischen Obsession mit der Geschichte in Zeiten des Thatcherismus verberge sich, so Wright, ein Paradox: Der Geschichte werde das Eigentliche genommen, sie werde in die Gegenwart eingepasst und verliere ihre Andersartigkeit. Zugleich enthalte sie kein Zukunftsversprechen mehr. Die Zeitform von "heritage" sei das Präsens: "In this process history is redefined as 'the historical'" (65). Dieser Präsentismus sei Ausdruck der Krise der Moderne seit den 1970er Jahren, die der Kulturkritiker Wright als Verlustgeschichte erzählt. Mit dem Ende utopischer Zukunftshorizonte, zunehmender Rationalisierung, Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung, der Zerschlagung traditioneller Formen gesellschaftlicher Integration und der Infragestellung des Wertgefüges gehe eine Destabilisierung des Alltagslebens einher und damit eine große Verunsicherung des Individuums. Der britische post-imperiale "decline" verschärfe die Krise noch zusätzlich.

Die Folge sei kollektive Nostalgie als Sehnsucht nach einer Welt unproblematischer Individualität und der Möglichkeit von Authentizität. In der Arbeiterbewegung äußere sich diese Nostalgie in der Verklärung der idealisierten Kultur der "working class", im Konservatismus der Ära Thatcher als kompensatorische Übersteigerung der Nation und ihrer Vergangenheit angesichts des britischen Niedergangs. Diese Interpretation des Thatcherismus steht im Zentrum des Buches. Ein hegemonial vorgebrachtes Narrativ nationaler, wenn auch vergangener Größe und homogener Gesellschaft diene dazu, Selbstverständnis und Deutungshoheit der "upper-middle class" zu erhalten, Klassenstrukturen zu zementieren und die monetaristische Politik abzufedern. Insofern mache sich der Thatcherismus die kollektive Verunsicherung Anfang der 1980er Jahre zunutze. Die konservative Verklärung von Nation und Geschichte interpretiert Wright mithin im marxistischen Sinne als Manipulationsstrategie der herrschenden Klasse, gleichermaßen als zeitgemäßes Opium für das Volk.

Doch versteht Wright sein Buch nicht nur als Zustandsbeschreibung, sondern vor allem als Beitrag zur Erneuerung linken Denkens aus der Tradition der Kulturkritik. Er ruft die britische Linke dazu auf, nicht der Nostalgie zu verfallen, sondern die Geschichte und daraus gewonnene Zukunftshorizonte wiederzubeleben. Anstelle einer interessegeleiteten Homogenität in der Präsentation nationaler Vergangenheit plädiert er für Pluralität und Partikularität und für den Abschied von der "culture of national 'decline'" (237). Dabei gelte es, in der Alltagskultur der Gegenwart anzusetzen.

Es nimmt kaum wunder, dass Wrights Buch Kritik auf der Linken provozierte: Raphael Samuel, einer der führenden marxistischen Historiker Großbritanniens, warf ihm (und anderen Kritikern der heritage-Welle) intellektuellen Snobismus, die Verkennung linker heritage-Traditionen und eine Geringschätzung des historischen Bewusstseins der einfachen Leute vor [2]; andere wie Peter Mandler hielten Wright entgegen, den Thatcherismus zu verkennen, mehr noch seine ökonomische Motivation herunterzuspielen.[3]

Historikerinnen und Historiker werden "On Living in an Old Country" mithin als historischen Text in die Hand nehmen, ist er doch eine sprechende Momentaufnahme des marxistisch inspirierten kulturkritischen Räsonierens im Großbritannien der 1980er Jahre. Zugleich gehören Wrights Essays zu den grundlegenden Texten in der Debatte um das britische Nationsverständnis, die uns außerdem in die Inkubationszeit des "cultural turn" führen. "On Living in an Old Country" ist also eine zeithistorische Quelle. Dass der Verlag darauf verzichtet hat, der Neuauflage eine Einleitung nicht nur des Autors voranzustellen, die "On Living in an Old Country" historisch kontextualisiert, ist daher bedauerlich.

Dennoch bliebt das Buch als analytischer Text für Historikerinnen und Historiker interessant. "On Living in an Old Country" kann der heutigen Forschung in der Tat noch Impulse geben: Wrights scharfer Blick für die kulturelle und eben nicht allein ökonomische Motivation des britischen Konservatismus unter Thatcher ist weiterhin inspirierend, Geschichtstheoretiker werden in seinen Ausführungen zu Geschichtsbewusstsein und Alltagskultur sowie zur Konstruktion nationaler Vergangenheit Anregendes finden und Spezialisten für die 1980er Jahre so manche treffende Beobachtung zur britischen Geschichtskultur in Zeiten des Thatcherismus. [4] Einen guten Einstieg in die intellektuellen Auseinandersetzungen der 1980er Jahre in diesem "old country" bietet Wrights Buch allemal.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Robert Lumley: The Debate on Heritage Reviewed, in: Roger Miles / Lauro Zavala (eds.): Towards the Museum of the Future. New European Perspectives, London / New York 1994, 57-69.

[2] Raphael Samuel: Theatres of Memory, Bd. 1: Past and Present in Contemporary Culture, London / New York 1994, 259-273.

[3] Peter Mandler: The English National Character. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven / London 2006, 234.

[4] Vgl. dazu nun Emily Robinson: History, Heritage and Tradition in Contemporary British Politics. Past Politics and Present Histories, Manchester / New York 2012.

Martina Steber