Rezension über:

Brita Polzer (Hg.): Kunst und Dorf. Künstlerische Aktivitäten in der Provinz, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2013, 300 S., 246 Farb-, 74 s/w-Abb., ISBN 978-3-85881-400-5, EUR 38,00
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Rezension von:
Sigrid Ruby
Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Sigrid Ruby: Rezension von: Brita Polzer (Hg.): Kunst und Dorf. Künstlerische Aktivitäten in der Provinz, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/24670.html


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Brita Polzer (Hg.): Kunst und Dorf

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"Mehr Fachpresse wäre nicht schlecht", meint die Künstlerin Antje Schiffers im Interview. "Mehr Analyse von Arbeiten, die sich solchen Themen widmen, in Hinblick auf Methoden und Ideen, auf Konzepte und Bildproduktion." (49) Was Schiffers meint und wofür sie ein Aufmerksamkeitsdefizit beobachtet, das sind künstlerische Arbeiten zu ökologischen und landwirtschaftlichen Themen und hier vor allem partizipative Projekte, die den ländlichen Raum, das Dorf und die Dorfgemeinde nicht nur motivisch-inhaltlich aufgreifen, sondern auch aktiv einbeziehen. In der Tat gibt es dazu nur spärlich Literatur. Wie überhaupt die abseits des Kunstmarkts und der großen Ausstellungshäuser hervorgebrachte, weniger auf Artefakte als auf Aktionen und soziale Praktiken setzende künstlerische Produktion von der Fachwelt nur bedingt wahrgenommen wird. [1] Der von der in Zürich lehrenden Künstlerin und Redakteurin Brita Polzer herausgegebene Band Kunst und Dorf begegnet solchen Defiziten auf höchst angenehme Weise. Die sorgfältig zusammengestellte und tadellos edierte Anthologie versammelt 37 Beiträge von Künstlerinnen, Kuratoren, Kunsthistorikerinnen, Anthropologen und anderen Kulturschaffenden, die sich des Themas aus unterschiedlichen Perspektiven und Kompetenzbereichen heraus annehmen, ohne dabei jemals in den gespreizten Jargon zu verfallen, mit dem Kritikerinnen und Deuter von Gegenwartskunst sich sonst ganz gerne schmücken.

Der umfangreich bebilderte Band ist in vier Kapitel unterteilt. Das erste und das letzte stellen Dorfprojekte vor, die in jüngster Zeit in der Schweiz, Österreich und Deutschland, vereinzelt auch in Tschechien, Ungarn und China realisiert wurden.

Das zweite "Kunst und Dorf gestern" überschriebene Kapitel umfasst drei im engeren Sinne kunsthistorische Aufsätze. Simone Tippach-Schneider gibt einen Überblick über das Thema Landwirtschaft in der Malerei der DDR. In den Beiträgen von Pascal Ruedin und Brita Polzer geht es um europäische Künstlerkolonien, die seit dem frühen 19. Jahrhundert (Barbizon), vor allem aber um 1900 (Worpswede, Savièse, Monte Verità) im ländlichen Raum entstanden und erfolgreich waren, weil sie einer städtischen Bürgerklientel alternative Bild- und Lebenswelten vor Augen führten. Dass es sich hierbei um hochgradig konstruierte Visionen von vermeintlich ursprünglicher Natur und authentischem Landleben handelte, mithin um kalkulierte Gegenentwürfe zu Industrialisierung und Urbanisierung, wird ebenso deutlich wie die Verankerung solcher Phänomene in der touristisch motivierten Erschließung des stadtnahen ländlichen Raumes. Auch in politischer Hinsicht sind die dörflichen Künstlerkolonien interessant: Ruedin akzentuiert die Bedeutung der Walliser "Schule von Savièse" und ihrer Bilderproduktion für die nationale Identität der Schweiz. Polzer wiederum stellt heraus, dass die Künstler der "Schule von Barbizon" der demokratischen Bewegung in Frankreich verbunden waren. Sie stilisierten den Bauern und seine Lebensumwelt zu einer gleichermaßen bewahrenden wie revolutionären Kraft. Die Worpsweder Künstlergemeinschaft hingegen pflegte eher den gesellschaftlichen Rückzug. Ihre literarisch und bildkünstlerisch überformte Agrarromantik ging mit einer national-konservativen Haltung einher, was einschlägigen nationalsozialistischen Positionen den Boden ebnete.

Im dritten Teil von Kunst und Dorf finden sich sechs von Polzer sogenannte "Sachtexte", die zum einen deutlich machen, wie sehr sich "das Dorf" in den letzten 200 Jahren verändert hat, zum anderen aber auch zu bedenken geben, dass der Stadt-Land-Dualismus eine historisch gewachsene Zivilisationskonstante ist, die immer noch Sehnsüchte ermöglicht und aufrecht erhält, aber nach wie vor auch die Gefahr der Vereinnahmung und Landnahme in sich birgt. Sowohl der Anthropogeograf Gerhard Henkel wie auch Brita Polzer und die Soziologin Andrea Baier betonen die Eigenart und den Mehrwert des Dorfes gestern und heute. Miriam Wiesel und das Atelier Havelblick problematisieren die Möglichkeiten und Funktionen von Kunst und Kultur auf dem Lande, zumal in menschen- und zukunftsentleerten Dörfern Ostdeutschlands: "Sollte Kultur in der Lage sein, Probleme zu adressieren oder gar zu lösen, bei denen andere Konzepte versagten?" (Wiesel, 241) Aber auch: "Wird die Kunst wieder einmal von der Politik vereinnahmt und instrumentalisiert?" (Havelblick, 243)

Die in der Mitte des Bandes versammelten kunsthistorischen Aufsätze und Sachtexte sind sämtlich fundiert, interessant und anregend und mitunter auch - wie im Fall von Benedikt Loderer zur "Hüslipest" - hintergründig, boshaft und erfrischend bissig. Das größte Verdienst von Polzers Anthologie aber ist die enorme Bandbreite der vorgestellten Dorfprojekte. Manche werden länger, die meisten - im vierten Teil des Bandes - auf nur einer Seite, ergänzt um Bildmaterial, präsentiert. Die Autorinnen und Autoren schildern, wie es zu ihrem Projekt kam, welche Rahmenbedingungen sie vorfanden, welche Probleme es gab, wie das Projekt sich im Verlauf der Arbeit verändert hat, welche Akteure involviert waren etc. Der Schwerpunkt liegt also weniger auf einer nachträglichen analytisch-kritischen Einordnung des künstlerischen Ansatzes oder Ergebnisses. Vielmehr wird beschrieben, was passierte, und wie und mit was im besten Sinne des Wortes gearbeitet wurde.

Für die Konzeption und Realisierung von Dorfprojekten existieren einige einschlägige Programme und Einrichtungen, wie z.B. das seit 1993 im zweijährigen Rhythmus stattfindende "Festival der Regionen" in Oberösterreich oder das 2009 initiierte Programm "Kunst fürs Dorf - Dörfer für Kunst" der Deutschen Stiftung Kulturlandschaft. Viele der zumeist städtisch sozialisierten Künstlerinnen und Künstler führten ihre Arbeiten auf Einladung solcher und anderer Initiativen durch, begaben sich in ausgewählte Dörfer, lebten für einige Zeit in und mit der Dorfgemeinschaft und konzipierten aus diesen Erfahrungen heraus ihre Werke. Die vorgestellten Projekte haben fast alle einen ausgeprägt partizipativen Charakter, waren oder sind also daraufhin angelegt, die lokale Bevölkerung einzubinden - nicht, um sie zur Kunst zu bekehren, sondern vor allem, um in der gemeinsamen künstlerischen Arbeit das "Wir-Gefühl" zu stärken oder überhaupt erst zu erfahren. Das Spektrum der Projekte reicht von der "Temporären Kunsthalle", die Rolf Wicker im mecklenburgischen Lelkendorf realisierte, über Tischdecken, die Bewohner des tschechischen Nošovice auf Anregung von Kateřina Šeda mit Landkarten bemalten, einen von Pia Lanzinger initiierten Dorfplatz im niedersächsischen Petze, eine das Gespräch fördernde öffentliche Lümmelei der Künstler Vincent Hofmann und Hansueli Nägeli im Zentrum von Aesch (Kanton Basel-Landschaft), eine von Max Bottini durchgeführte Porträtierung aller Einwohnerinnen und Einwohner von Amriswil (Kanton Thurgau), das Dorfmaskottchen "Mocmoc", das das Künstlerduo Com&Com für Romanshorn (Thurgau) entwarf, bis hin zu einer Straßenbemalung in Vercorin im Wallis von Sabina Lang und Daniel Baumann und einem "Konzert für den Frieden", choreografiert von Konrad Rennert im niederösterreichischen Erlauf. Jedes dieser und alle anderen im Band erwähnten Projekte sind besonders und eigens für den jeweiligen Dorfzusammenhang erdacht bzw. daraus entwickelt. Viele spielen mit etablierten Erwartungshaltungen gegenüber der Kunst und dem Landleben gleichermaßen. Wiederholt wird das lokale Handwerk integriert und in seiner identitätsstiftenden Kraft bestärkt. Nicht wenige Künstlerinnen und Künstler betonen in ihren Berichten, dass sie die Dorfbewohner als offen und hilfsbereit erlebten, interessiert an konkreten Themen und aufgeschlossen für deren Diskussion, weniger an formalen Problemen. Dadurch konnte häufig, wie Hubert Lobnig herausstellt, eine andere Art von künstlerischer Ortspezifik entstehen, die weniger auf die topografischen Eigenschaften eines bestimmten Ortes bzw. Dorfes abzielt, sondern "in den Prozessen der Bedeutungsproduktion, die in der Zeit der Recherche, der Findung eines Ansatzes und der Erarbeitung einer installativen Situation in den Künstler/innen und Betrachter/innen freigesetzt werden" (102), gründet.

Mit Kunst und Dorf steht ein ansprechendes, abwechslungsreiches und sehr gut lesbares Kompendium zur Verfügung, das sein Thema sowohl in der historischen Dimension als auch in der aktuellen Relevanz fokussiert und zu weiteren Überlegungen wie auch Aktivitäten auf dem Feld anregt. Jenseits altbekannter und neuerdings wieder aufkommender Agrarromantik.


Anmerkung:

[1] Siehe aber zuletzt: Karen van den Berg / Ursula Pasero (Hgg.): Art Production Beyond the Art Market?, Berlin 2013.

Sigrid Ruby