Rezension über:

Anna Walentynowicz: Solidarność - eine persönliche Geschichte (= Berichte und Studien; 62), Göttingen: V&R unipress 2012, 209 S., ISBN 978-3-89971-980-2, EUR 19,99
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Rezension von:
Katarzyna Śliwińska
Instytut Filologii Germańskiej, Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Poznań
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Katarzyna Śliwińska: Rezension von: Anna Walentynowicz: Solidarność - eine persönliche Geschichte, Göttingen: V&R unipress 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/25673.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Anna Walentynowicz: Solidarność - eine persönliche Geschichte

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Anna Walentynowicz ist in Deutschland nicht erst seit Strajk, Volker Schlöndorffs filmischer "Ballade nach historischen Ereignissen" - so der Regisseur - aus dem Jahr 2007, als Mitbegründerin der Gewerkschaft Solidarność bekannt. Ihre Entlassung aus der Danziger Lenin-Werft im August 1980 löste jene Streikbewegung aus, die letztlich ganz Polen und in der Folge auch den gesamten Ostblock ins Wanken brachte. Mit ihrer Autobiografie liegt nun der deutschsprachigen Öffentlichkeit eine persönliche Geschichte der "Heldin von Danzig" vor, die selten im bloß Privaten verbleibt. Es ist zugleich eine persönliche, oft einseitige Geschichte der Solidarność - verfasst von einer Frau, deren Leben in gleichem Maß beispiellos wie beispielhaft war. Wenn man mit Pierre Bourdieu davon ausgeht, "daß hinter der autobiographischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse [...] am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik" steht [1], so lässt sich diese im Fall von Walentynowicz auf die Formel bringen: "sich selbst und allen, die ausgebeutet werden und denen Unrecht zugefügt wird, den Weg zu einem Leben in Würde zu bahnen" (62). Aus diesem Motto erklärt sich die in ihren Konsequenzen beeindruckende Biografie der Verfasserin - und auch ihre Unversöhnlichkeit gegenüber allen, die in ihren Augen die Ideale von einst verraten hätten.

Walentynowicz wird 1929 als Anna Lubczyk in Równe, heute in der Ukraine, in einer Bauernfamilie geboren. Nachdem sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs beide Eltern verliert, kommt sie als Magd bei Nachbarn unter, muss hart arbeiten, wird geschlagen. 1945 gelangt sie mit der Familie des Bauern in die Nähe von Danzig (Gdańsk). Sie beginnt sich gegen die Misshandlungen zu wehren. Mit 20 Jahren befreit sie sich. Sie zieht nach Danzig, erlernt den Beruf der Schweißerin und findet Ende 1950 Arbeit auf der Lenin-Werft, in der sie mit Unterbrechungen bis 1991 beschäftigt sein wird. Begeistert von dem Versprechen, dass in der Volksrepublik alle Menschen gleich sein werden, setzt sie große Hoffnungen in den Staat. Sie erfüllt alle Akkordziele und Planvorgaben, engagiert sich, erhält Auszeichnungen. Sie ist eine Vorzeigearbeiterin, doch ihr Sinn für Gerechtigkeit und der Mut, verbriefte Arbeiterrechte einzufordern, bringen sie wiederholt in Schwierigkeiten. 1953 wird sie zum ersten Mal verhört, 1968 steht sie kurz vor der Entlassung. 65 Arbeiter unterzeichnen einen Brief zu ihrer Verteidigung - es ist wohl der erste kollektive Protest auf der Werft. Walentynowicz wird in eine andere Abteilung versetzt und arbeitet fortan als Kranführerin. Stalins Tod 1953, die Massenproteste in Polen 1956 und 1968, schreibt sie, berühren sie noch nicht (38) - eine politische Ausbildung wird sie erst später durchlaufen. An den Arbeiterprotesten im Dezember 1970 beteiligt sie sich in der Werksküche: "Schließlich musste für 17 000 Menschen viel heiße Suppe zubereitet werden" (44).

Ab 1978 zählt sie zur politischen Opposition im engeren Sinn, lernt auch den ehemaligen Werftelektriker Lech Wałęsa kennen. Die Werftleitung bemüht sich, Walentynowicz zu isolieren, am 7. August 1980 wird sie schließlich fristlos entlassen. Eine Woche später treten 16 000 Arbeiter in den Ausstand und fordern die Rücknahme der Kündigung, später auch die Wiedereinstellung von Wałęsa und eine Teuerungszulage. Als es darum geht, sich an die Spitze des Streikes zu stellen, überlässt Walentynowicz die Führung einem Mann. Die Wahl fällt auf Wałęsa. Erst später wird Walentynowicz bewusst, dass sie sich damit selbst ins Abseits befördert hat. Nachdem die Werftleitung einlenkt, erklärt Wałęsa den Streik für beendet. Doch Walentynowicz hält abziehende Werftarbeiter auf und überzeugt sie von der Notwendigkeit, den Protest fortzusetzen: "Was haben wir erreicht? Zwei Personen, die wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, und ein paar Zloty in der Tasche. Was ist mit der Freien Gewerkschaft?" (75) In der Nacht klettert Wałęsa der Legende nach über den Werftzaun, um als Streikführer in die Geschichte einzugehen. Ein überbetriebliches Streikkomitee wird einberufen, das die Proteste anleiten und unterstützen soll. Am 31. August 1980 akzeptiert die Regierung alle 21 Forderungen: neben der Zulassung freier Gewerkschaften das Streikrecht, die Rede-, Druck- und Publikationsfreiheit, die Freilassung der politischen Häftlinge sowie zahlreiche soziale Verbesserungen. Es ist die Geburtsstunde der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die zu einem Sammelbecken der oppositionellen Kräfte Polens wird. Aufgrund konzeptioneller Divergenzen und des autoritären Führungsstils Wałęsas nehmen die Konflikte innerhalb der Gewerkschaft zu. Führende Gewerkschafter, darunter Walentynowicz, werfen dem Vorsitzenden Verrat an Programm und Idealen der Bewegung vor, wiederholt ist auch von der Stasi-Mitarbeit des IM "Bolek" die Rede. Infolge dieser Auseinandersetzungen scheidet Walentynowicz aus der Solidarność-Führung aus.

Im Dezember 1981 verhängt Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht und zwingt die Opposition in den Untergrund. Walentynowicz wird in den folgenden drei Jahren mehrmals inhaftiert. Nach ihrer Haftentlassung darf sie ihre Arbeit in der Werft nicht wieder aufnehmen, sie erhält auch keine Rente. Doch sie ist weiterhin aktiv, sieht sich aber von Wałęsa an den Rand gedrängt und sympathisiert mit dem radikalen Flügel der Solidarność. Mit dem Runden Tisch im Frühjahr 1989 trennt sie sich endgültig von ihren einstigen Weggefährten. Machtausübung und die Machtteilung, die der Runde Tisch mit sich bringt, sind ihre Sache nicht, politischen Realismus lehnt sie ab. Sie versteht sich als Repräsentantin eines Widerstands von unten, der keine Privilegien sucht, sondern eine konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit fordert. Im Sommer 1989 versucht sie erfolglos, einen Streik in der Werft zu organisieren. Seit 1990 arbeitet sie wieder in der Werft, initiiert dort im März 1991 einen weiteren Streik, danach geht sie in Rente, zieht sich aber aus dem öffentlichen Leben noch immer nicht zurück. In den folgenden Jahren nimmt sie jede Gelegenheit wahr, um die Politik ihrer einstigen Mitstreiter zu kritisieren, die Spitzenpositionen in Regierung und Wirtschaft übernahmen, insbesondere Wałęsa, der mittlerweile zum Staatspräsidenten aufgestiegen ist. Sie lehnt die Einladungen zu den Versammlungen der Solidarność ab (als 2002 die Arbeiter der Danziger Werft streiken, steht sie aber wieder am Werkstor, um ihre Solidarität zu zeigen), an den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Gründungsjubiläum nimmt sie ebenfalls nicht teil. Am 10. April 2010 stirbt sie tragisch in der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk - gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und zahlreichen hochrangigen Personen aus der Staats-, Armee- und Wirtschaftsführung.

Umstrittene Thesen und die Entschiedenheit, mit der Walentynowicz ihren Standpunkt vertrat, machten sie auch nach dem Systemwandel von 1989 unbequem. Auch damit ist zu erklären, dass die erste (1993) und vor allem die zweite Auflage ihrer Erinnerungen Cień przyszłości (2005) in Polen ein Erfolg wurde. Es würde aber zu kurz greifen, wenn man dies allein ihrer Abrechnung mit Wałęsa zuschreiben wollte. Das Buch erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die jenseits aller politischen Polemik zeigt, wie viel ein Einzelner bewegen und ausrichten kann. Walentynowicz' Selbstzeugnis kann diejenigen Leser interessieren, die die politische Entwicklung in Polen ab 1989 in ihren unterschiedlichen Facetten verstehen möchten. Die deutsche Übersetzung fußt auf der letzten polnischen Ausgabe aus dem Jahr 2009. Der Herausgeber Tytus Jaskułowski hat notwendige Anmerkungen eingefügt, die die Einordnung der Namen und Fakten in historische und politische Zusammenhänge erleichtern.


Anmerkung:

[1] Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998, 75-83, hier 76.

Katarzyna Śliwińska