Rezension über:

Klaus Martin Girardet (Bearb.): Konstantin. Oratio ad sanctorum coetum - Rede an die Versammlung der Heiligen (= Fontes Christiani; Bd. 55), Freiburg: Herder 2013, 300 S., 14 a/w-Abb., ISBN 978-3-451-30957-1, EUR 40,00
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Rezension von:
Johannes Wienand
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Wienand: Rezension von: Klaus Martin Girardet (Bearb.): Konstantin. Oratio ad sanctorum coetum - Rede an die Versammlung der Heiligen, Freiburg: Herder 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/12/24081.html


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Klaus Martin Girardet (Bearb.): Konstantin

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Einem antiken Herrscher boten sich zahlreiche Gelegenheiten, sich mit kurzen Ansprachen oder auch mit umfangreicheren Reden an seine Untertanen zu wenden. Die antike Historiografie hat zahllose Herrscherreden dieser Art fiktiv nachempfunden, und ebenso zahllose Manuskripte oder auch Mitschriften tatsächlich vom Herrscher gehaltener Reden müssen einst existiert haben. Nur von einer verschwindend geringen Zahl authentischer Herrscherreden aber hat sich ein entsprechender Originaltext erhalten. Den vielleicht faszinierendsten Fall einer echten antiken Herrscherrede stellt die Oratio ad sanctorum coetum ("Rede an die Versammlung der Heiligen") dar, eine Festrede des Kaisers Konstantin des Großen (306-337 n.Chr.). Die Rede wurde ursprünglich in Latein abgefasst und vom Kaiser wohl auch in Latein gehalten. Bewahrt hat sich eine offizielle griechische Übersetzung, die vom Hof in Umlauf gebracht und als Anhang zur Vita Constantini des Bischofs Eusebius von Caesarea tradiert wurde. Mit der Festrede, die anlässlich eines Karfreitags in festlichem Rahmen vor erlesenem Publikum am Hof gehalten wurde, bemühte sich der erste christliche Kaiser um eine religiös-philosophische Fundierung der christlichen Monarchie. Dass hier der Kaiser selbst in Aktion trat, um den religiös-politischen Diskurs zu beeinflussen, ist höchst signifikant. In der Konstantinforschung findet die Rede allerdings aus verschiedenen Gründen bislang nur peripher Beachtung. Dies wird sich voraussichtlich in absehbarer Zeit speziell im deutschsprachigen Raum ändern, denn mit Klaus Martin Girardet hat nun ein ausgewiesener Kenner der aetas Constantini eine mit einer ausführlichen historisch-philologischen Einleitung versehene zweisprachige Ausgabe mit annotierter deutscher Übersetzung in der Reihe Fontes Christiani herausgebracht - nicht weniger als einhundert Jahre nach der letzten und bisher einzigen deutschen Übersetzung, die (ohne substanzielle Kommentierung) von J. M. Pfättisch in der "Bibliothek der Kirchenväter" vorgelegt worden ist und eine Reihe an Unzulänglichkeiten aufweist. Der griechische Originaltext der neuen Ausgabe ist aus der Edition von I. A. Heikel (GCS 7, Eusebius Werke 1) übernommen, wie bei den Fontes üblich ohne kritischen Apparat. Der Text ist teils schwer zu verstehen, was sich zwangsläufig auch in der Übersetzung niederschlägt. Durch moderaten Einsatz insgesamt hilfreicher Anmerkungen werden entsprechende Unklarheiten meist an Ort und Stelle aufgelöst, Fragen von allgemeinerem Interesse zu den wesentlichen Aspekten der Rede, ihrer Autorschaft, der Datierung und Interpretation werden in der gut einhundert Seiten umfassenden Einleitung diskutiert.

Die Übersetzung ist insgesamt verlässlich. An einigen Stellen lohnt dennoch ein genauerer Blick. Dies gilt insbesondere dort, wo der Originaltext uneindeutig formuliert ist, von Girardet aber in dezidierter Weise gelesen wird, um eine spezifische Gesamtdeutung der Rede gewinnen zu können. Bei der ersten Stelle dieser Art (1.1) weist noch eine Anmerkung auf einen interpretierenden Zusatz im Haupttext hin: Der Karfreitag, so führt Konstantin aus, sei "besonders glückselig für die große Menge derer, die Gott verehren und die für den Gott selbst ihrer (christlichen) Religion nach Maßgabe ihrer religiösen Empfindungen durch ihre lobpreisenden Äußerungen ohne Unterlass Hymnen singen ..." - so steht es in der Übersetzung, während die Fußnote 6 darüber aufklärt, dass die Wendung διὰ τῶν ἐντὸς αἰσθήσεως τῆς ἑκάστου (s.c. θρησκείας) eigentlich wörtlich "nach Maßgabe der inneren Empfindungen der Religion eines jeden" zu übersetzen wäre. Die griechische Formulierung ist offener als die deutsche Übersetzung, und es erscheint fraglich, ob hier tatsächlich nur die christliche Religion gemeint ist: Dass Konstantin auch divergente Gottesverständnisse in den Kult seiner summa divinitas einbeziehen konnte, ist jedenfalls verschiedentlich bezeugt - Eusebius etwa berichtet zur Einweihung der Grabeskirche in Jerusalem (d.h. noch gegen Ende der konstantinischen Herrschaft), dass neben christlichen Klerikern auch Personen an den kultischen Vorgängen beteiligt waren, die sich weder durch theologische Festreden noch durch Schriftexegese einbringen konnten, die aber "die Gottheit durch geheimnisvolle heilige Opfer ohne Blut zu versöhnen [suchten], indem sie bittflehende Gebete an Gott richteten für den allgemeinen Frieden, für die Kirche Gottes, für den Kaiser selbst, der Urheber dieser großen Taten war, und seine gottgeliebten Söhne" (Vit. Const. 4.45.2; Übers. Schneider 2007) - hier handelt es sich offenbar um staatliche Funktionsträger, denen die Aufgabe zukam, den christlichen Kult für den Herrscherkult zu vereinnahmen und auch für Nichtchristen anschlussfähig auszugestalten (ähnlich wie dies Eusebius auch für den Heereskult bezeugt: Vit. Const. 4.18-20). Die in der Oratio ad sanctorum coetum greifbaren Indizien zum Publikum der Rede legen ebenfalls nahe, dass Konstantin nicht nur "ein christliches Publikum" (so Girardet auf S. 41) vor Augen hatte. Jedenfalls spricht nichts dagegen, in der Wendung φίλοι θ΄οἱ λοιποὶ ξύμπαντες ἄνδρες - "und ihr übrigen (mit mir) befreundeten Männer" (1.1) - eine religiös bewusst neutral gehaltene Ansprache zu sehen, zumal sich die Rede auch inhaltlich weniger an die Schriftbewanderten im Auditorium richtet, sondern primär an Personen adressiert ist, "die noch nicht eingeweiht sind in solche Lehren" (11.1). Girardets dezidierte (aber problematische) Einschätzung des konstantinischen Missionseifers (vgl. S. 93: "politisches Ziel der Auslöschung des Paganismus durch Christianisierung der Einwohnerschaft des Imperiums und überhaupt aller Menschen") mag erklären, wie es an dieser Stelle zu einer Überbewertung der christlichen Adressaten der Rede und in der Folge zur Christianisierung der Übersetzung kam.

Zweitens sei auf das Wortfeld um γνώμη, γνῶσις, γιγνώσκω etc. hingewiesen. Im Register griechischer Begriffe taucht kein Terminus dieser Familie auf, obgleich es sich in der Rede (mit etwa zwanzig Vorkommnissen) um ein zentrales und auch in seinem neoplatonischen Umfeld erkenntnistheoretisch relevantes Konzept handelt. Konstantin fundiert just über die γνῶσις τῶν θείων (11.1) bzw. γνῶσις τῶν ἀρεσκόντων τῷ θεῷ (11.2) seine privilegierte Nahbeziehung zur Sphäre des Göttlichen, die über Girardets Vorstellung eines von persönlicher christlicher Frömmigkeit erfüllten Mannes hinausgeht. Auch in Eusebius' Laus Constantini und Vita Constantini wird über das Konzept der γνῶσις die Erkenntnis des Göttlichen als Medium religiöser Autorität verhandelt. In der Oratio Constantini wird mit der entsprechenden Begrifflichkeit der christliche Kaiser selbst als heilsgeschichtlich relevanter Akteur konturiert, der über eine christlich gewendete Ideenschau das Göttliche zu erkennen vermag; in der Übersetzung liest man dagegen nur von einer eher unkonkreten "Bekanntschaft mit den göttlichen Dingen" bzw. einer ähnlich blassen "Kenntnis dessen, was Gott wohlgefällig ist". Wenn der Rede des Kaisers tatsächlich auch Bischöfe folgten (und dies darf als sicher gelten), werden sie jedenfalls nach einer Antwort auf die Frage gesucht haben, wie ein später Konvertit wie Konstantin seinen religiösen Führungsanspruch fundiert. Dem Verweis des Kaisers auf seine γνῶσις τῶν θείων - in anderen Zusammenhängen gerne auch mit Berichten göttlicher Visionen unterfüttert - kommt hier eine Schlüsselstellung zu.

Drittes sei auf die Passage 22.1 hingewiesen, die von zentraler Bedeutung für die Datierung der Rede ist. Die Wendung σύνοιδεν δὲ καὶ μετ' εὐφημίας ἐπαινεῖ καὶ ἡ μεγάλη πόλις, βούλεται δὲ καὶ ὁ δῆμος τῆς φιλτάτης πόλεως besagt, dass die "große Stadt" etwas tut (nämlich die Erfolge Konstantins lobpreist) als auch das Volk der "sehr geliebten Stadt" dies tun möchte. Die Details der Forschungsdiskussion müssen hier nicht eigens rekapituliert werden, entscheidend für Girardets Argumentation ist aber, dass es sich bei der "großen Stadt" und der "sehr geliebten Stadt" um ein und dieselbe Stadt handelt. Der griechische Text lässt dies nicht eindeutig erkennen. Erst dadurch, dass in Girardets Übersetzung die Wendung in zwei eigenständige Sätze zerlegt wird, entsteht die Eindeutigkeit, auf der Girardets Argumentation beruht. Auf eine klärende Anmerkung wird in diesem Fall verzichtet. Auf der Frühdatierung der Oratio, die damit einigermaßen sicher erscheint, basiert ganz wesentlich die weitreichende Einschätzung Girardets, Konstantin habe schon früh eine exklusive Präferenz für das Christentum und damit einhergehend eine Ablehnung der paganen Religion öffentlich und unzweideutig kommuniziert.

In den drei genannten Fällen stützt die Übersetzung entscheidende Facetten der seit längerem etablierten Girardet'schen Gesamtdeutung der konstantinischen Wende, deren Grundzüge in der Einleitung der hier diskutierten Textausgabe im Grunde nur knapp rekapituliert werden. Da Girardets Deutung vor allem über die letzten anderthalb Jahrzehnte hinweg nicht unerheblichen Einfluss auf das Konstantinbild der deutschsprachigen Forschung ausgeübt hat, lohnt sich eine nähere Betrachtung: Bereits aus den obigen Beispielen geht hervor, dass Girardet die historische Dynamik der "konstantinischen Wende" in der Konversion Konstantins zum christlichen Glauben verortet, d.h. in Konstantins christlicher Frömmigkeit. Über ein intuitives Verständnis davon hinaus, was es heißt, Christ zu sein, werden Aussagen wie "Konstantin hat die oratio offenkundig als ein Christ geschrieben und vorgetragen" (S. 28) allerdings nicht geklärt. Aus der Konzentration auf die persönliche Frömmigkeit des historischen Akteurs entsteht nun aber die Gefahr, dass der Text als "Selbstzeugnis" seines Autors missverstanden, dass also vordergründig historisch-philologische Textarbeit als methodisch problematisches Instrument der Introspektion genutzt wird. Die Oratio des Kaisers ist aber kein geheimes Tagebuch, sie ist Ausdruck des kaiserlichen Bemühens, die Deutungshoheit in Sachen Christianisierung der Herrscherrolle im Speziellen und der römischen Monarchie im Allgemeinen zu gewinnen und zu behaupten - und dies im zeremoniellen Setting vor einer erlesenen Festgemeinde im Empfangssaal eines kaiserlichen Residenzpalastes. Interessant ist diese Rede also nicht deshalb, weil Sie - wie Girardet meint - zeigt, dass Konstantin schon früh und ohne Taufe Christ war (was auch immer das bedeuten soll), sondern weil sich in ihr greifen lässt, wie sich der römische Imperator in einem überhaupt erst im Entstehen begriffenen christlich-monarchischen Koordinatensystem darum bemühte, religiöse Autorität zu generieren, zu gestalten und zu verteidigen.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet offenbart die Rede Sonderbarkeiten des politischen Diskurses in konstantinischer Zeit, die beharrlich den Radar der Girardet'schen Deutung unterfliegen: Wenn der Kaiser in 11.1-2 etwa so ausführlich auf seine späte Konversion eingeht, reagiert er offenbar auf ein gravierendes Legitimationsdefizit gegenüber christlichen Adressaten, das sich aus der Diskrepanz zwischen seinem Anspruch auf religiöse Autorität einerseits und seinem Mangel an christlich-exegetischer Kompetenz andererseits ergibt: Immerhin tritt er durch die Integration von römischer Herrschaftsordnung und christlicher Religion in direkte Konkurrenz zum religiösen Führungsanspruch der Bischöfe, was Eusebius immer wieder zu überspielen versucht hat (dass der Bischof das Problem erkannt hat, zeigt sich schon darin, dass er den Einfluss christlicher Berater auf Konstantin in auffälliger Weise betont - bezeichnenderweise gerade auch mit Blick auf Konstantins erste christliche Vision: Vit. Const. 1.28-32), was andere christliche Beobachter aber mit geringerer Zurückhaltung quittiert haben: gut bezeugt sind etwa die Verleumdung Konstantins als Antichrist (vgl. Passio Sancti Donati BHL 2303b) oder auch der Sturz kaiserlicher Statuen (Vit. Const. 3.4) - in beiden Fällen wurde die Christianisierung der römischen Monarchie offenbar vor allem für Christen zum Problem, und zwar nicht zuletzt durch die massiven Eingriffe des Kaisers in innerchristliche Belange. Konstantins Anspruch auf eine religiöse Sonderstellung und die damit verbundene Führungskompetenz auch und gerade im christlichen Bereich musste folglich auf alternativem Wege abgesichert werden. In diesem Spannungsfeld wird der im Rahmen der höfischen Karfreitagsfeierlichkeiten inszenierte Auftritt des Imperators als christlicher Mystagoge relevant, der sich als Bemühen der Zentrale lesen lässt, ein Modell religiöser Autorität des römischen Souverän gegenüber seinen christlichen und nichtchristlichen Untertanen zu vermitteln. Das Problem der späten Konversion versucht Konstantin hier dadurch in den Griff zu bekommen, dass er einerseits auf seine "angeborene Liebe zum Göttlichen" verweist, andererseits die Qualität seiner Offenbarung und seiner Einsicht in das Göttliche betont. Wenn Konstantin dann so ausführlich über vorchristliche Zeugnisse für das Wirken der göttlichen Offenbarung spricht (vgl. insbesondere die Ausführungen zur erythräischen Sibylle, 18-21, und zu Vergil, 19-21), lässt sich dies im Sinne eines Analogons zu seinem eigenen religiösen Werdegang als Teil der kaiserlichen Rechtfertigungsstrategie verstehen.

Diese Überlegungen zeigen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Oratio ad Sanctorum Coetum überhaupt erst richtig in Gang kommen muss, um diese außergewöhnliche und einzigartige Quelle für unser Verständnis der Transformation der römischen Monarchie zwischen Prinzipat und Spätantike zu erschließen. Girardet hat mit seiner kommentierten Übersetzung einen wertvollen Beitrag hierzu geleistet, auch wenn das historische Verständnis der Rede als Kommunikationsmedium in einzelnen Punkten zu kurz greift. Um die Bedeutung der Oratio umfassend würdigen zu können, wird die weitere Forschung jedenfalls gut daran tun, über den Horizont der bisher vorgelegten Interpretationsansätze noch hinauszugehen.

Johannes Wienand