Rezension über:

Christian Rollinger: Amicitia sanctissime colenda. Freundschaft und soziale Netzwerke in der Späten Republik (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 19), Heidelberg: Verlag Antike 2014, 576 S., ISBN 978-3-938032-71-8, EUR 89,90
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Rezension von:
Karl-Joachim Hölkeskamp
Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Joachim Hölkeskamp: Rezension von: Christian Rollinger: Amicitia sanctissime colenda. Freundschaft und soziale Netzwerke in der Späten Republik, Heidelberg: Verlag Antike 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/25081.html


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Christian Rollinger: Amicitia sanctissime colenda

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Der Titel dieses interessanten, reichen und anregenden Buches ist durchaus als Programm zu verstehen - und dieses Programm, wie Christian Rollinger gleich zu Beginn deutlich werden läßt, ist höchst ambitioniert: Er will nicht nur "die altbekannte Frage nach der Wirkmächtigkeit römischer Treu- und Nahverhältnisse" neu stellen und den "zweiteilige(n) Versuch einer Antwort" wagen. Einerseits soll es dabei um die "kulturell-philosophische Grundlage" und die darauf beruhende "Bedeutung horizontaler Beziehungen und Verflechtungen innerhalb der spätrepublikanischen Oberschicht" gehen (13), andererseits um den "regelrechten Katalog an Verhaltensregeln und Leistungsanforderungen" und das breite Spektrum konkreter sozialer Praktiken, die auf diesem "moralischen Regelwerk" beruhten (14). Vor allem aber will er "dort, wo altgediente und verlässliche historische Methoden erschöpft worden sind", wie er es etwas defensiv formuliert, "Zuflucht zu den Nachbardisziplinen" suchen, "um neue Blickfelder (sic), neue Sichtweisen, schlicht: neue Inspiration zu finden" (11) - und die findet er allgemein in "neuen und bislang vor allem in der deutschsprachigen althistorischen Forschung fast gänzlich unbekannten Methodologien, Analyseprozessen und Theorieperspektiven", genauer in "anthropologisch-soziologisch inspirierte(n) Methoden" und insbesondere konkret in der "Analyse sozialer Netzwerke" (10). Durch diese "quantitativen, auf eine gewisse empirische Objektivität ausgerichteten Methoden der mathematisch-informatischen Netzwerkanalyse" hofft er sogar, jene "Beschränkungen [...] zumindest teilweise zu überwinden", die sich durch "eine fragmentarische, lückenhafte und unter gänzlich anderen Voraussetzungen entstandenen Quellenbasis" ergeben. Und erst wenn wir "die zusammengewachsene und sich gegenseitig durch eine Vielzahl von 'Diensten' und Verbundenheiten verpflichtete Oberschicht als Netzwerk begreifen, bietet sich uns eine neue Sichtweise auf im Einzelfall bereits bekannte Fakten" - und dazu gehöre etwa die (eigentlich bekannte) eigenartige "soziale Kohäsion" der politischen Klasse (15). Allerdings bietet Rollinger erst sehr spät dann eine detaillierte Definition seiner zentralen Kategorie, die ihm mehr sein soll als das übliche "metaphorische Feigenblatt", sondern als "paradigmatische Neuerung " verstanden werden müsse (15 bzw. 354): "Netzwerke sind informelle, weitgehend stabile und regelhafte, aber inkonstante und zeitlichem Wandel unterworfene Bündelungen von Beziehungen und Personengruppen. Sie binden die vernetzten Personen und Personengruppen in ein dominantes soziales Bezugssystem ein, das von institutionellen, organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen weitgehend unabhängig ist, und bieten ihnen Aktionsmöglichkeiten und Nutzungschancen, die über die formellen Rahmenbedingungen hinausgehe. Netzwerke weisen gewöhnlich einen Kern- und einen Peripheriebereich auf, sind oft hierarchisch strukturiert und verändern sich oder lösen sich auf, wenn sich im zentralen Bereich - also bei den dominanten Knotenpunkten - gravierende Wandlungsprozesse ereignen oder Leitungsfunktionen nicht mehr adäquat besetzt sind" (424).

Rollingers Programm klingt wie eine in Dissertationen übliche, aber besonders vollmundige Affirmation von Innovation und Originalität - und der immer noch gelegentlich wiederholte, wohlfeile Vorwurf an die Adresse der deutschsprachigen Althistorie wird der Entwicklung der Disziplin in den letzten Jahrzehnten bekanntlich kaum gerecht. Eigentlich weiß Rollinger das auch; denn er ist durchaus auf der Höhe der Forschung, nicht nur zur Politik-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte der (späten) römischen Republik. In seinen Analysen der kulturellen und "moralphilosophischen Voraussetzungen" der "Treu- und Nahverhältnisse" allgemein und des Konzeptes der amicitia im besonderen, die übrigens den erwähnten altgedienten und verlässlichen Methoden sorgfältiger Lektüre und eindringlicher Ausdeutung verpflichtet bleiben, setzt sich Rollinger auf reflektierte und (fast immer) differenzierte Weise mit der einschlägigen Forschung auseinander, vor allem natürlich mit den Arbeiten von Matthias Gelzer und Christian Meier, aber eben auch mit neueren Arbeiten, etwa von Peter Brunt und Richard Saller (17-52). In Absetzung zu dem traditionellen Diskurs einer allgegenwärtigen inhärenten Asymmetrie bzw. eines rein instrumentellen Charakters der amicitia entwickelt er ein anderes "Verständnis von Freundschaft" innerhalb der Elite: Es handele sich vielmehr um "dauerhafte, auf (quasi) symmetrischem Austausch und der Grundlage gefühlter oder betonter Gleichheit und/oder emotionaler Beteiligung basierende, persönliche Beziehungen" (50, vgl. 13, 44 u.ö.), während in Begriffen wie clientela und patronatus ebenso eindeutig "unüberbrückbare Differenzen in Status, materiellem Wohlstand und emotionaler Beteiligung" eingeschrieben seien (51).

Diese Komplementarität von Reziprozität und Symmetrie bleibt der Leitgedanke der folgenden Ausführungen zu dem "sehr eng gestrickten Korsett an Normen und Regeln" und dem daraus resultierenden omnipräsenten "Druck der Gegenseitigkeit" (101), die auf eingehenden Analysen der komplexen Semantik einschlägiger Konzepte wie officium und beneficium, gratia und fides beruhen (79-132). Dieses Kapitel über die "Verhaltensregeln der römischen Freundschaft" weist bereits auf den folgenden Hauptteil des Buches voraus, in dem es um die konkreten sozialen Praktiken geht, durch welche die "heilige Pflicht der Freundschaft" alltäglich zu realisieren war (133-352). Einerseits geht es um die verschiedenen Formen und Foren der (nicht nur symbolischen, sondern auch realen und intensiven) face-to-face Kommunikation - von der morgendlichen salutatio bis zum abendlichen convivium (134-180). Andererseits analysiert Rollinger die hochentwickelte und differenzierte Kultur des Briefes und die damit gewissermaßen sekundär hergestellte "Anwesenheit des Abwesenden" (187-194 sowie 180-246) - hier liegt der Schwerpunkt auf der 'Untergattung' der Empfehlungsbriefe als einer spezifischen Diskursform der sozialen Praktik der commendatio. Danach kann Rollinger auch gleich zu weiteren "Formen der Unterstützung" übergehen - dazu zählt er die Übertragung von "militärischen Funktionsstellen", das Auftreten als Leumundszeuge vor Gericht und erst recht die Übernahme der Verteidigung, die Gewährung von Darlehen und Bürgschaften, gegebenenfalls die Beteiligung an der Finanzierung von Mitgiften und schließlich die testamentarische Einsetzung als (Mit-)Erbe. Diese Felder sind ebenso weit wie mittlerweile gut bestellt - das weiß auch Rollinger, dokumentiert die neuere Forschung sorgfältig und umsichtig, bietet aber nicht nur Synthesen, sondern immer wieder auch eigene, neue Einsichten und stellt Zusammenhänge her.

Das alles dient nicht nur, aber auch der Einführung in den letzten und nach Rollingers Programm wichtigsten Teil, in dem das "Entdeckte in einen größeren theoretischen Zusammenhang" gebracht werden soll (15) und der einen schlichten Titel trägt: "Das Oberschichtennetzwerk" (353-411). Nach einer recht informativen, wiederum gut dokumentierten und außerordentlich reflektierten, allerdings auch ziemlich ausführlichen theoretisch-konzeptuellen und methodischen Einleitung zur soziologischen social network analysis, ihrer Operationalisierbarkeit und modifizierten Anwendung in der historischen [1], mittlerweile auch althistorischen Netzwerkanalyse (354-391) nimmt er die zuvor einzeln entwickelten Fäden wieder auf (vgl. auch die "Schlussbetrachtungen": 412-434): Aus den erwähnten sozialen Praktiken und Kommunikationsformen von salutationes und convivia bis zu den verschiedenen Arten finanzieller Verbindungen respektive den darin gewissermaßen eingespannten insgesamt 490 namentlich bekannten Akteuren spinnt Rollinger schließlich ein "umfassendes Gesamtnetzwerk", das sich um eine überschaubare "Reihe von besonders einflussreichen Akteuren" gruppierte, "die über eine disproportional hohe Anzahl von Verbindungen verfügten": Caesar, Pompeius, Crassus, Lucullus "und einige mehr" (403-411, Zitat 424), zu denen natürlich auch Cicero gehörte - und das ist ein Problem, wie Rollinger genau weiß: Durch die allgemein bekannte Quellenlage entsteht eine besondere Art der 'Zentrierung' auf diesen 'Akteur'. Immerhin ist er überhaupt ehrlich genug, auch und gerade deswegen seine "Erkenntniserwartung" immer wieder zurückzunehmen (410 u.ö.). Es fragt sich auch, ob Rollinger das allgegenwärtige "Gleichheitsideal", die amicitia-Rhetorik und den "ostentativ egalitären Charakter" der Umgangsformen (171 bzw. 148 u.ö. ) nicht doch etwas zu sehr zum Nennwert nimmt: Dadurch werden jene 'feinen Unterschiede' - wobei dieses Konzept auch, aber nicht nur im Bourdieuschen Sinne zu verstehen ist - von Rang und Reputation, dignitas und durchaus handfester auctoritas gelegentlich etwas verdeckt, die gerade in der fluiden und permanent neu auszuhandelnden bzw. auszutarierenden "Beziehungs- und Prestigekartographie" des senatorischen Adels (so die treffende Bezeichnung: 180) ein tief eingerastetes, festes Grundmuster darstellen.

Kurzum: nicht alles ist neu, wie etwa die Diagnose einer eigentümlich dichten "Kohäsion" der republikanischen Elite, aber vieles erscheint in neuem, interessantem Licht. Und nicht zuletzt macht uns Rollinger ein Theorieangebot, dessen analytisches Potential noch längst nicht erschöpft sein dürfte.


Anmerkung:

[1] Vgl. außer der zitierten Literatur etwa Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605-1621 in akteurszentrierter Perspektive, Epfendorf/Neckar 2010, 25-38 und passim, mit weiteren Nachweisen zur "Verflechtungs- bzw. Netzwerkanalyse" als "Grundpfeiler zur Rekonstruktion" von "Beziehungs- und Bindungssträngen" in der neueren Frühneuzeitforschung (z.B. 29-30, zu den grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Reinhard).

Karl-Joachim Hölkeskamp