Rezension über:

Christian Lütnant: "Im Kopf der Bestie". Die RAF und ihr internationalistisches Selbstverständnis (= Reihe Geschichtswissenschaft; Bd. 23), Marburg: Tectum 2014, 184 S., ISBN 978-3-8288-3322-7, EUR 29,95
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Rezension von:
Gisela Diewald-Kerkmann
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Gisela Diewald-Kerkmann: Rezension von: Christian Lütnant: "Im Kopf der Bestie". Die RAF und ihr internationalistisches Selbstverständnis, Marburg: Tectum 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/25569.html


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Christian Lütnant: "Im Kopf der Bestie"

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Im Zentrum der Arbeit steht das internationalistische Selbstverständnis der RAF, wobei nach Christian Lütnant diese Gruppe "in ihren Äußerungen stets Anspruch auf den internationalistischen Charakter ihrer Existenz [erhob], was für eine linksterroristische Organisation nicht überraschen kann, da der Internationalismus integraler Bestandteil der marxistischen Theorie ist" (12). Hiervon ausgehend geht es ihm vor allem um die Fragestellung, "wie die RAF diesen Begriff rezipiert und verinnerlicht hat". Ferner soll die Frage beantwortet werden, ob es sich "um bloße Lippenbekenntnisse handelte oder um tiefe Überzeugungen, die innerhalb der Gruppe zur gelebten Wirklichkeit wurden" (13). Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass es nicht bei einer "noetischen Untersuchung" des Konzeptes bleiben, sondern vielmehr eine vergleichende und verquickende Analyse von Theorie und Praxis geleistet werden soll. Schon an dieser Stelle sei angemerkt, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie enttäuschend sind.

Die mangelnde Durchdringung des Themenkomplexes wird bereits in der Einleitung deutlich, angefangen von der fehlenden Fokussierung der Fragestellung bis zu einer ungenügenden Auseinandersetzung mit der Literaturlage und dem Forschungsstand. Allein die Position, dass die Entwicklung der RAF "zu guter Letzt [...] vor dem historischen Hintergrund betrachtet werden" (14) muss, um herauszufinden, ob die internationalistische Perspektive der Gruppe durch historische Ereignisse und Entwicklungen determiniert gewesen sei, unterschätzt die Relevanz der historischen Kontextualisierung.

Die Quellenbasis der "wissenschaftlichen Abschlussarbeit" (16) - es handelt sich um eine Masterarbeit, eingereicht nach einem Studium der Germanistik und der Neueren Geschichte an der Universität Duisburg - bilden Bestände aus der Literatur, primär programmatische Schriften, "Kommandoerklärungen" und Stellungnahmen von RAF-Mitgliedern. Dabei handelt es sich vor allem um Texte und Erklärungen, die vom ID-Verlag unter dem Titel "Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF" im Jahre 1997 veröffentlicht wurden. Darüber hinaus wird die Internetplattform "labourhistory.net" des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam benutzt. Dass diese Auswahl aufschlussreich sein kann, ist unbestritten.

Aber es ist problematisch, wenn solche Materialien keiner quellenkritischen Untersuchung unterzogen werden. So erscheint es zweifelhaft, ob diese Quellen eine Außensicht der RAF liefern bzw. verdeutlichen, wie die RAF von außen gesehen werden wollte. Genauso fraglich ist es, inwieweit durch Kassiber und Briefe relevante gruppeninterne Diskurse nachgezeichnet werden können. Dass solche Überlieferungen wegen ihrer Brüchigkeit und Ambivalenz von Erkenntnissen einer gründlichen Quellenkritik unterzogen sowie "gegen den Strich" gelesen werden sollten, muss eigentlich nicht erwähnt werden. Gerade bei der Auseinandersetzung mit einem so brisanten Thema wie dem bundesdeutschen Terrorismus müssen weitere Quellengruppen herangezogen, Materialien unterschiedlicher Provenienz miteinander kontrastiert und Quellenvergleiche zur Absicherung der Informationen vorgenommen werden. Eine vergleichende Sichtung ist wichtig, um generalisierbare Aussagen treffen, typische Elemente herausarbeiten und die Ergebnisse auf ihre Repräsentativität hin überprüfen zu können. Das gilt gerade für programmatische Aussagen der RAF, die ausdrücklich zum Zweck der Selbstdarstellung der terroristischen Gruppe verfasst und veröffentlicht wurden.

Während im zweiten Kapitel der Internationalismus der Studentenbewegung ab Mitte der 1960er Jahre referiert wird, geht es im dritten Abschnitt um das Thema: "US-Imperialismus und Vietnamkonflikt als vermittelnde Momente des bewaffneten Kampfes", konkret für den Untersuchungszeitraum von Mai 1970 bis Sommer 1972. In diesen Textpassagen finden sich - wie in der gesamten Arbeit - häufige Wiederholungen bereits bekannter Ergebnisse. Partiell erfolgt dies in einer für eine geschichtswissenschaftliche Abhandlung irritierenden Sprache: "Diesen Wurzeln [der RAF] soll hier [...] nachgespürt werden, denn wenn man einen Baum verstehen will, muss man auf das Erdreich und die Wurzeln blicken. Die RAF bleibt zwangsläufig unverständlich, wenn man den Mutterboden der Studentenbewegung außer Acht lässt, aus dem sie hervorgegangen ist und in den sie ihre Wurzeln erstreckt" (23). Erschwerend kommt hinzu, dass eine undifferenzierte Verbindungslinie zwischen der Studentenbewegung und dem bundesdeutschen Terrorismus hergestellt wird, und - wie Matthias Lemke zu Recht konstatiert - neben der "nicht gänzlich sauberen begrifflichen und historischen Verquickung von Studentenbewegung und Linksterrorismus [...] das Ergebnis der Analyse doch recht eindimensional" ausfällt. [1] Aber treffend hebt Lütnant hervor, dass die militärischen Ausbildungserfolge einzelner RAF-Gründungsmitglieder im Nahen Osten im Jahre 1970 mäßig gewesen seien, nicht zuletzt wegen des nonkonformistischen Verhaltens der Gruppenmitglieder, die kulturelles Fingerspitzengefühl und militärische Disziplin vermissen ließen (77).

Im vierten und fünften Kapitel werden spezifische Phasen erörtert: "Herbst 1972 - Herbst 1977: zwischen Isolation und Internationalismus" und "Sommer 1979 - Frühjahr 1992: Die Hinwendung nach Westeuropa und die 'antiimperialistische Front'". Zwar findet sich auf den vorherigen Textseiten schon die Tendenz, übermäßig lange Zitate aufzunehmen, aber jetzt (ab Seite 87) werden leider fast auf jeder Seite programmatische Passagen in aller Ausführlichkeit aneinandergereiht. Diese Langatmigkeit hätte durch eine systematische Einordnung in Argumentationsstränge vermieden werden können. Weitere Ungenauigkeiten verstärken diesen Eindruck. Beispielsweise war Karl Heinz Roth nicht SDS-Vorsitzender (103); genauso wenig kann gesagt werden, dass mit Andreas Baaders Tod die RAF gestorben sei (125). Hierdurch werden nicht nur die Rolle von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, sondern auch die Entwicklungslinien der RAF nach 1977 ignoriert.

Dass die Auseinandersetzung mit dem internationalistischen Selbstverständnis der RAF wichtig ist, belegt bereits die Darstellung von Christopher Daase. [2] Ob die vorliegende Veröffentlichung über diesen Forschungsstand hinausgeht und der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht wird, bleibt fraglich. Dementsprechend ist das Ergebnis im sechsten Kapitel auch mit Vorsicht zu betrachten: "Die internationalistische Praxis belegt - trotz ihrer vornehmlich pragmatischen Intentionen -, dass es sich beim Internationalismus der RAF um gelebte Überzeugung und nicht bloß um ein opportunistisches Lippenbekenntnis handelte" (168).


Anmerkungen:

[1] Rezension von Matthias Lemke zu diesem Buch, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37437-imkopf-der-bestie_45733 (Zugriff am 07.01.2015).

[2] Vgl. Christopher Daase: Die RAF und der internationale Terrorismus, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, 905-927.

Gisela Diewald-Kerkmann