Rezension über:

Philip Hahn: Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der "Oeconomia" Johann Colers (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 18), Epfendorf: bibliotheca academica 2013, 631 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-928471-84-8, EUR 75,00
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Rezension von:
Tobias Winnerling
Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Winnerling: Rezension von: Philip Hahn: Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der "Oeconomia" Johann Colers, Epfendorf: bibliotheca academica 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/25682.html


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Philip Hahn: Das Haus im Buch

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Philip Hahn legt mit der Veröffentlichung seiner 2009 vorgelegten Dissertation eine im Wortsinn gewichtige Studie vor. Die über 600 Druckseiten sind - so die Erfahrung des Rezensenten - für die Lektüre in Bus oder Bahn nur bedingt geeignet. Nun war das wohl auch kaum die Intention des Verfassers. Aber es wirft gerade in diesem Kontext bedenkenswerte Fragen nach den Eigenheiten der modernen Form solcher akademischen Gebrauchsbücher auf, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Was der Autor hier nämlich bezweckt, ist eine möglichst genaue Beschreibung und Analyse von Johann Colers (1566-1639) "Oeconomia". Das Werk erschien erstmals 1591 und erlebte über einen Zeitraum von über 100 Jahren hinweg bis ins Jahr 1692 immer neue Auflagen. Es begründete nicht nur den Ruhm seines Verfassers, sondern gilt auch als eines der populärsten Gebrauchsbücher der frühen Neuzeit und als Prototyp der sogenannten "Hausväterliteratur". Hahn schließt sich dieser Bewertung insofern an, als auch er die "Oeconomia" als Gebrauchsbuch auffasst, allerdings verwendet er in kritischer Distanz zum Begriff der Hausväterliteratur den Terminus des "Hausbuchs". Sein erklärtes Ziel ist es, anhand der kombinierten Analyse von Druckgeschichte, Textualität und Materialität der "Oeconomia" zu einem erweiterten Verständnis der Gebrauchsbücher und ihrer Leserschaft zu kommen. Angesichts der Schwierigkeiten der historischen Leseforschung, gerade zu den Lesern von Populärliteratur Aussagen zu treffen, ist das ein mehr als nur begrüßenswertes Vorhaben.

Hierzu gliedert der Autor seine Studie in vier Teile, die sich wiederum in Produktion (1, 2) und Rezeption (3, 4) des Werks gliedern lassen. Der erste befasst sich mit der Kommunikation Colers mit seinen Lesern, schildert also die Autorperspektive. Hierbei operiert Hahn mit dem Konzept der "imaginierten Kommunikation" (35) zwischen Autor und Leser. Er arbeitet als Ergebnis heraus, Coler sei sich der Leser seines Werkes sehr bewusst gewesen und habe gezielt versucht, diese über genau verfolgte textuelle Strategien in seinem Sinne (als lutherischer Pfarrer) zu beeinflussen. Der zweite Teil thematisiert die Publikationsgeschichte des Werkes aus der Sicht der Verleger, geht also auf Produzenten und Marktbedingungen ein. Hier wird sichtbar, dass es sich beim Colerschen Hausbuch nicht nur um ein ökonomisch erfolgreiches, sondern im Sinn des ersten Teils eben auch um ein konfessionell interpretierbares Werk handelte. Die lobenswert vorsichtige Annäherung an mögliche Auflagenhöhen und Verlagsinteressen verfestigt dieses Bild.

Der dritte Teil erschließt die literarische Rezeption im Druck. Hier verlässt Hahn das enge Genre der "Hausbücher", beschränkt sich aber dennoch vor allem auf solche Werke, die er als landwirtschaftliche Ratgeber einstuft. An ihrem Beispiel wird das Weiterwirken Colers durch Bezug, Abschrift und Paraphrase dargelegt. In der Analyse der Entdeckung und Behandlung des Werks durch die Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert wird der - zu Recht als unzureichend bezeichnete - Forschungsstand auf innovative Weise resümiert. Der vierte Teil behandelt die handschriftlich überlieferte Rezeption, also die über Einträge und Marginalien noch erschließbaren Besitzer und Leser. Methodisch sauber trennt Hahn hier zwischen Besitznachweis und Lesespuren und versucht mit großer Mühe, möglichst viele Details dieser Rezeption zu kontextualisieren. Ein großes Verdienst dieses Teiles der Arbeit ist es, 327 noch einsehbare Exemplare ausgewertet zu haben und so tatsächlich generalisierbare Aussagen hervorzubringen. [1]

Die größte Stärke des Werkes liegt in der durchgängigen Fokussierung auf ein einziges Werk, das Hahn in all seinen Erscheinungsweisen über ein Jahrhundert hinweg verfolgt. Der Index der erhaltenen Exemplare ebenso wie das Verzeichnis der Auflagen und der überlieferten Preisinformationen ist ein außerordentlich hilfreiches Werkzeug für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema. Die detailreiche Betrachtung der von Coler verhandelten Gegenstände, ihrer Erweiterung und Änderung in den Folgeauflagen und der rhetorischen und stilistischen Merkmale der "Oeconomia" sollten anderen Studien zu ähnlichen Gegenständen als Beispiel dienen. Auch die Behandlung der überlieferten Lesepuren ist sehr ausführlich und erhellend. Die Stärke des Werkes ist allerdings zugleich auch eine Schwäche. Denn die strikte Fokussierung auf Coler als Autor und auf die "Oeconomia" als Werk bringt zwangsläufig eine Einschränkung mit sich, sodass das weitere intellektuelle und verlagsökonomische Milieu, in dem populäre Wissensliteratur entstand, blass bleibt.

Das Buch Hahns ist eine eindrucksvolle Leistung und eine gründliche und lesenswerte Studie über ein vielgelesenes Buch. Es eröffnet ein weites Panorama und spannende Fragestellungen. Dennoch muss der Rezensent an dieser Stelle zugeben, dass er gegenüber den Schlussfolgerungen in einigen Punkten andere Positionen vertritt. Vielleicht teilte die "Oeconomia" das Schicksal, das möglicherweise auch Hahns Werk treffen wird: dass es zwar zum akademischen Gebrauch gedacht ist, diesem aber in Format, Gewicht und Preis gewisse Einschränkungen entgegenstellt. Hahns Argumentation zeigt sich in vielem von der eingangs getroffenen Einstufung seines Gegenstands in die (auch in der sonstigen Literatur) nie wirklich operational definierte Kategorie des "Gebrauchsbuchs" geleitet. Es geht ihm darum, herauszuarbeiten, wie, wozu und von wem es wann 'gebraucht' wurde; dass es primär Alltagsgebrauchsgegenstand war, hinterfragt er nicht. Aus eigenen Forschungen an den vielfach verwandten zeitgleichen Kräuterbüchern heraus [2] scheint es mir aber auf Dauer vielversprechender zu sein, gerade das zu problematisieren und diese Werke mit Schneiders Definition als "Wissensspeicher" zu betrachten. [3]

Zweifel an der Eigenschaft der "Oeconomia" als Gebrauchsbuch nährt auch die Tatsache, dass sich, wie von Hahn selbst konstatiert, anhand der überlieferten Exemplare vor allem geistliche, patrizische und adelige Eigentümer nachweisen lassen. Auch wenn Hahn dies durchaus plausibel damit erklärt, dass in ihren Fällen die Überlieferungschancen höher seien (388), bleibt es doch eine offene Frage, inwiefern das Werk von denen benutzt wurde, die das in ihm verfügbare Wissen tagtäglich und eigenhändig hätten anwenden können. Der direkte Ton vertraulicher Ansprache oder Anweisung des Lesers lässt sich jedenfalls nicht als Argument dafür ins Feld führen, denn er ist in der "Oeconomia" ebenso anzutreffen wie in Kräuter- und Rezeptbüchern, Ratgebern, Almanachen und astrologischen Werken - und damit auch in Büchern, die sich nachweislich an ein gelehrtes Publikum richteten. Mit solchen Werken teilt die "Oeconomia" übrigens auch den gemischten Charakter, die Behandlung verschiedener Wissensgebiete zwischen denselben Deckeln; das eher repräsentative Format der meisten ihrer Ausgaben; und die Herkunft des Autors aus einem protestantischen Milieu mit starkem akademischem Einschlag. Nicht zuletzt ähneln sich auch die Merkmale der Verlage.

Eine weniger enge Genredefinition der "Oeconomia" und eine weitere Einbettung des Autors Coler in die Verlags- und Autorenlandschaft populärer Wissensliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts hätte es ermöglicht, diesen und anderen Fragen nachzugehen. Den Wert des eben nicht nur im Wortsinn gewichtigen Buchs von Philip Hahn schmälert dies aber nicht.


Anmerkungen:

[1] Es scheinen allerdings nicht, wie von Hahn versprochen, alle noch erhaltenen öffentlich zugänglichen Exemplare erfasst zu sein. Die (einzige) Stichprobe am Bestand der ULB Düsseldorf ergab wie bei Hahn angegeben eine Ausgabe von 1604 (Signatur DV 931, Bestand seit 1961), aber auch noch eine weitere, nicht erfasste Ausgabe von 1665 (Signatur AGR 17 (2) 1/2, Bestand seit 19. Jhdt.): Volldigitalisat unter: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/6771093 (Bd. 1) und http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/6772016 (Bd. 2). Hahns Befund wird dabei nicht gestört, da beide Bände bis auf vereinzelte kleine Flecken keine Nutzungsspuren aufweisen.

[2] Zuletzt: Das Kräuterbuch als frühneuzeitliches Gebrauchs-Objekt?, in: Friederike Elias / Albrecht Franz / Henning Murmann / Ulrich Weiser (Hgg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften (= Schriftenreihe des SFB 933 "Materiale Textkulturen"; Bd. 3), Berlin 2013, 165-199.

[3] Ulrich Johannes Schneider: Bücher als Wissensmaschinen, in: Ders. (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, 9-20, hier 17.

Tobias Winnerling