Rezension über:

Klaus Seidl: "Gesetzliche Revolution" im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 288 S., 5 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-506-76645-8, EUR 44,90
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Rezension von:
Frank Engehausen
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Engehausen: Rezension von: Klaus Seidl: "Gesetzliche Revolution" im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/25566.html


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Klaus Seidl: "Gesetzliche Revolution" im Schatten der Gewalt

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Klaus Seidl hat für seine in München bei Wolfram Siemann entstandene Dissertation eine originelle Perspektive gewählt und betrachtet die Reichsverfassungskampagne vom Frühjahr 1849, die schon Zeitgenossen, aber auch die historische Forschung zumeist als eine Abfolge von bewaffneten Aufständen zur Durchsetzung der Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung wahrnahmen, als einen öffentlichen Meinungskampf. Er plädiert für eine "Neuinterpretation des Revolutionsfinales: Die Verfassungsfrage war zu allererst eine politische Streitfrage, die nicht militärisch entschieden wurde. Ihre Schauplätze waren weniger die Schlachtfelder von Waghäusel oder Rastatt als vielmehr die Räume der neuen politischen Öffentlichkeit: von den Parlamenten über die Wirtshäuser bis zur 'Straße', auf der unzählige Volksversammlungen den Volkswillen aussprachen. Hier und in den davon beeinflussten Konferenzsälen der Regierungen entschied sich das Schicksal der Reichsverfassung" (24). Da eine solche Neubewertung der Reichsverfassungskampagne in toto vorerst nicht zu leisten ist, beschränkt sich Seidl auf die bayerischen Verhältnisse und hier ganz auf die rechtsrheinischen Gebiete Bayerns, die sich aus mehreren Gründen für eine exemplarische Analyse besonders eignen: wegen der besonderen Bedeutung, die die Ablehnung der Reichsverfassung durch den bayerischen König für den Gesamtverlauf der Kampagne hatte, wegen der Intensität der öffentlichen Teilnahme am politischen Diskurs über die Verfassung, aber auch wegen der sehr unterschiedlichen Reaktionen, die sich in Altbayern, Franken und Schwaben zeigten und somit eine "modellhaft(e)" (28) Studie ermöglichen.

Die Arbeit ist in drei unterschiedlich große Abschnitte unterteilt, deren erster und kürzester die Rahmenbedingungen der Reichsverfassungskampagne nachzeichnet. Er steht unter dem Titel "Frankfurt: Kampf um den 'Rechtsboden' der 'gesetzlichen Revolution'" und richtet zunächst das Augenmerk auf die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung, die der zentrale Orientierungspunkt für die Unterstützer der Reichsverfassungskampagne war, in der kritischen Phase ihrer Arbeit im April und in der ersten Hälfte des Mai. Orientierungspunkt war sie nicht nur für die konstitutionellen Liberalen, sondern auch für die große Mehrheit der Demokraten, die ebenfalls den in der Paulskirche geschaffenen Rechtsboden nicht verlassen wollten, auch wenn zunehmend unklarer wurde, wie dieser nach der Ablehnung der Kaiserwürde durch den preußischen König denn überhaupt beschaffen war. Im Anschluss daran schildert Seidl in markanter neuer Schwerpunktsetzung gegenüber dem bisherigen common sense der Forschung die Rolle des Reichsverwesers und des von ihm eingesetzten konservativen Ministeriums Grävell-Wittgenstein in diesen Wochen. Dabei schreibt er Erzherzog Johann eine zentrale Bedeutung in dem Prozess der "Delegitimierung und Entrechtlichung der Revolution" zu, der letztlich das Schicksal der Reichsverfassungskampagne besiegelt habe. Den Abschluss des ersten Abschnitts bildet ein kurzer Überblick über die Haltung eines weiteren überregionalen Akteurs, des von der Paulskirchenlinken gegründeten Zentralmärzvereins, der im April und Anfang Mai 1849 zunächst beträchtliche Agitationserfolge verzeichnen konnte, mit dem Beginn der bewaffneten Aufstände aber rasch seine Integrationskraft einbüßte.

Der zweite und bei weitem umfangreichste Abschnitt der Arbeit ist den "bayerischen Akteuren" gewidmet. Hier untersucht Seidl in akribischer Auswertung archivalischer und publizistischer Quellen zunächst die regionale Verbreitung und soziale Reichweite demokratischer und konstitutioneller Vereine sowie ihre Reaktionen und Einflussnahmen auf die politischen Ereignisse von Ende März bis Ende Mai 1849, und auch die Trennung beider Gruppen nach der vorübergehenden Zusammenarbeit in einer "Verfassungskoalition" beleuchtet er in einem Ausblick auf ihre konträren Einschätzungen der preußischen Unionspolitik von 1849/50. Dem folgt die Darstellung der bayerischen Regierungspolitik in den Wochen vor, während und nach der Reichsverfassungskampagne, in der Seidl hervorhebt, wie die Beschwichtigungsmaßnahmen des Königs und seiner Regierung nur allmählich zu einer offensiveren Manipulations- und "geheimen Volksstimmungspolitik" übergingen. Besondere Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang die anschließenden Ausführungen über die konservativen Verfassungsgegner in Bayern, deren Stärke Seidl größer einschätzt, als dies die ältere Forschung zumeist getan hat, und deren Vereinsgründungen er auch nicht als vorrangig staatlich gelenkt einschätzt: Vielmehr habe die "konservative Massenbewegung die Regierungspolitik" getragen und damit "die politische Basis der Gegenrevolution" gebildet (154f.).

Der dritte Abschnitt der Arbeit bietet eine Querschnittsanalyse der Reichsverfassungskampagne im rechtsrheinischen Bayern und stellt die Praktiken der "gesetzlichen Revolution" vor - sowohl jene der "Verfassungskoalition" als auch jene der Konservativen. Was Seidl dort in drei Kapiteln über Presse und Publizistik, den "papiernen Protest" durch Petitionen und die Volksversammlungen als "Ersatz- und Gegenparlamente" vorträgt, stützt in eindrucksvoller Weise die von der Forschung schon häufiger konstatierten Modelle der "Kommunikationsrevolution" und "Fundamentalpolitisierung". Bewegt er sich hiermit auf sicheren Gleisen, so plädiert Seidl in dem Résumé seiner Arbeit nochmals für eine Neubewertung der Reichsverfassungskampagne: Nicht die Gewalt der Bajonette habe die Reichsverfassungskampagne beendet; vielmehr sei sie an ihren inneren Widersprüchen gescheitert: "Am Ende fehlte den Verfassungsunterstützern die nötige Überzeugung, um den gesetzlichen Weg zu verlassen und zu den Waffen zu greifen" (241). Mit der Erosion der Nationalversammlung habe - "zunächst bei den Konstitutionellen, später auch bei den Demokraten - ein gravierender Meinungsumschwung" eingesetzt, "der es Preußen und der Zentralgewalt letztlich erlaubte, die Aufstände im Südwesten niederzuschlagen. Die politische Streitfrage war zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden" (249). Hiermit greift Seidl allerdings doch weit über seinen Untersuchungsgegenstand hinaus. Ob auch andernorts und insbesondere in den Staaten, in denen es zu bewaffneten Aufständen kam, der öffentliche Meinungskampf über die Reichsverfassung bereits im Mai 1849 so eindeutig entschieden war wie im rechtsrheinischen Bayern, bedarf jedoch wohl noch der Überprüfung. Hierzu kann Seidls Arbeit wichtige Anstöße geben.

Frank Engehausen