Rezension über:

Natalie Maag: Alemannische Minuskel (744-846 n. Chr.). Frühe Schriftkultur im Bodenseeraum und Voralpenland (= Quellen und Forschungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters; Bd. 18), Stuttgart: Anton Hiersemann 2014, XIV + 238 S., 120 Abb., 14 Faksimiles, ISBN 978-3-7772-1422-1, EUR 164,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bernhard Zeller
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Zeller: Rezension von: Natalie Maag: Alemannische Minuskel (744-846 n. Chr.). Frühe Schriftkultur im Bodenseeraum und Voralpenland, Stuttgart: Anton Hiersemann 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/06/26774.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Natalie Maag: Alemannische Minuskel (744-846 n. Chr.)

Textgröße: A A A

Bei diesem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 933 "Materiale Textkulturen" entstandenen und im Dezember 2012 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommenen Dissertation. Die von der Autorin als "Schriftbiographie" (VII) verstandene Arbeit gliedert sich in mehrere Abschnitte. Auf eine kurze Einleitung (1-4) folgen ein Forschungsüberblick (5-33) sowie die beiden zentralen Teile "St. Gallen und Reichenau - Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten" (34-112) und "Skriptorien jenseits des Bodenseeraumes" (113-167). Abgeschlossen wird das Buch durch eine Zusammenfassung (168-175), eine Bibliographie (177-185) und einen Katalog von Handschriften und Urkunden in alemannischer Minuskel (187-212). Im Anhang folgen 13 farbige Tafeln, ein Musteralphabet zu Winithars Schrift, ein Handschriften- und ein Namensregister (213-238).

Bereits in der Einleitung (3), vor allem aber im folgenden Forschungsüberblick (5-33) wird darauf aufmerksam gemacht, dass die alemannische Schrift in der älteren Forschung zunächst häufig als "merowingisch" oder "(früh)karolingisch unausgebildete Minuskel" u.ä. bezeichnet bzw. unter einem weiter gefassten Begriff der rätischen Minuskel behandelt wurde. Zu Recht wird die Bedeutung Albert Bruckners für die paläographische und terminologische Trennung der alemannischen von der (chur-)rätischen Minuskel hervorgehoben. Schließlich weist die Autorin in Hinblick auf das frühere 9. Jahrhundert auf die Schwierigkeiten einer Klassifizierung und Benennung von (Übergangs-)Schriften hin, die in unterschiedlichem Ausmaß und diversen Mischungsverhältnissen Merkmale der alemannischen und der karolingischen Minuskel aufweisen. Die von Bruckner geprägte und stark auf die großen Skriptorien von St. Gallen und Reichenau zugeschnittene Konzeption der alemannischen Minuskel wird in diesem Zusammenhang hingegen kaum hinterfragt. [1] Die alemannische Minuskel wird primär über bestimmte, zum Teil auch in anderen Schrifttypen nachweisbare paläographische Einzelformen definiert (19-20), wobei die nt-Ligatur auch im Wortinneren, häufiges 3er-förmiges g, Ligaturen von r und t mit vorangehenden und folgenden Buchstaben (v.a. re, ri, rt) als "Minimalkriterien" (30) festgemacht werden. Diese primär über bestimmte Einzelformen vorgenommene Definition der alemannischen Minuskel ermöglicht es der Autorin dann auch, eine ganze Reihe von Schriftformen unter diesem Begriff zu subsumieren.

Im folgenden Abschnitt (34-112) wird die alemannische Minuskel vornehmlich an markanten Schreiberpersönlichkeiten des St. Galler und des Reichenauer Skriptoriums betrachtet, auf der einen Seite an Winithar, Waldo und Wolfcoz, auf der anderen Seite an Reginbert, wobei Winithar besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Seine eigenwillige, im St. Galler Skriptorium alleinstehende und in der Forschung sehr unterschiedlich verortete Schrift wird als alemannische Minuskel interpretiert (39), Winithar selbst als Leiter des St. Galler Skriptoriums verstanden (43, 58). Im Unterschied zur älteren Forschung ordnet die Autorin Winithar auch Cod. Sang. 194 zu (45-48). Zudem identifiziert sie einen im Cod. Sang. 109 neben Winithar tätigen ungenannten Schreiber mit dem in der St. Galler Urkunde ChLA II, n. 113 aus den 780er Jahren einmalig belegten Priester Berahtcozus (48-50). Dem seit den frühen 770er Jahren in St. Gallen vornehmlich als Urkundenschreiber belegten Waldo, dem in der älteren Forschung ein maßgeblicher Einfluss auf die Schriftentwicklung im Steinach-Kloster beigemessen wurde, ist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet (56-58). Er wird mit einem der Hauptschreiber von Cod. Sang. 12 identifiziert, während auf ältere kontroverse Zuordnungen anderer Handschriften nicht näher eingegangen wird. [2]

In weiterer Folge wird die Reichenauer Handschriftenproduktion des 8. und früheren 9. Jahrhunderts behandelt. Breiterer Raum wird dem Skriptorium unter Reginbert gewidmet. In diesem Zusammenhang versucht die Autorin auch das Verhältnis zwischen Reginbert und mehreren St. Galler Handschriften der sogenannten "Wolfcoz-Gruppe" neu auszuloten. Sie kommt dabei zu dem interessanten Ergebnis, dass mehrere, früher dem St. Galler Schreiber Wolfcoz bzw. dem "Wolfcoz-Kreis" zugeordnete Handschriften Reichenauer Ursprungs und Reginbert bzw. zwei seiner Mitarbeiter ("Zweiter Mann", "Dritter Mann") zuzuschreiben seien. [3] Es handelt sich um das sogenannte "Wolfcoz-Evangelistar", Cod. Sang. 367, und um den "Zürcher Psalter", Zürich, Zentralbibliothek C 12. Weitere Handschriften, deren Ursprung die Autorin im Gegensatz zu großen Teilen der älteren Forschung nicht in St. Gallen, sondern auf der Reichenau annimmt, sind Cod. Sang. 114 und 128, Wien, ÖNB lat. 1815 und Zürich, Zentralbibliothek Rh. 34. Im Fall des vieldiskutierten St. Galler "Wolfcoz-Psalters", Cod. Sang. 20, einer "Zwillingshandschrift" des "Zürcher Psalters", aber auch in Hinblick auf Cod. Sang. 671 sowie Cod. Sang. 14, 115, 575 werden bereits früher geäußerte Zuschreibungen an den St. Galler Schreiber Wolfcoz bestätigt. Wolfcoz werden, freilich nur am Rande und ohne weitere Begründung (109 Anm. 293), auch die Cod. Sang. 121, 432 und 626 zugeordnet.

Im nächsten Abschnitt (113-167) geht die Autorin den paläographischen Verbindungen zwischen den in Alemannien verbreiteten Schriftformen und jenen in benachbarten Schriftprovinzen nach. Wiederum primär auf der Grundlage der Auswertung von Einzelformen, die ein Vorkommen der für die alemannische Minuskel charakteristischen Elemente auch außerhalb Alemanniens belegt, kommt sie im Fall von Freising zum Schluss, dass die alemannische Minuskel "häufig im Freisinger Skriptorium zu finden ist", ja, "dass fast die gesamte frühe Produktion in alemannischer Minuskel geschrieben wurde" (122). Auch das Mondseer Skriptorium sei "in seinen ältesten überlieferten Minuskelhandschriften durch und durch alemannisch" (134). Die alemannische Minuskel bzw. ihre Einflüsse und Symptome findet die Autorin außerdem auch in nicht wenigen Handschriften und Fragmenten aus Kochel, Kremsmünster, Benediktbeuern und Lorsch. Weniger überraschend erscheinen dagegen die Merkmale und Spuren dieser Schrift in den Handschriften aus dem Skriptorium von Murbach im Elsass, doch konstatiert die Autorin für die entsprechenden Handschriften aufgrund der dort öfter belegbaren (geschlossenen) t-Form auch einen rätischen Einfluss (150, 159).

In diesen Interpretationen werden die Grenzen einer vornehmlich auf der (zweifellos grundlegenden) Analyse bzw. "Mikroskopie" (1, 4, u.ö.) von Einzelformen beruhenden Definition der alemannischen Minuskel deutlich, die anderen, schwieriger zu fassenden und kaum objektiv zu beschreibenden Parametern (allgemeiner Eindruck, Proportioniertheit, Ductus usw.) weniger Bedeutung zumisst: Dass der vornehmlich in den Skriptorien von Reichenau und St. Gallen gepflegte Schrifttyp der alemannischen Minuskel Verbindungen und Parallelen zu den Schriftformen der Nachbarprovinzen aufweist, ist nachdrücklich zu unterstreichen. Diese Verbindungen und Parallelen verweisen zweifellos auf eine von der Autorin betonte gemeinsame Schriftkultur (134), doch ist fraglich, ob sich diese unter dem Begriff der alemannischen Minuskel zusammenfassen lässt.

Es ist ein Verdienst dieser Arbeit, sich mit dem nicht einfachen und teilweise auch spröden paläographischen Komplex der alemannischen Minuskel, ihrer Schriftzeugnisse und Schreiber auseinander zu setzen. Auf vielfältige Weise wird auch in dieser Studie deutlich, wie eng die beiden wichtigsten Schreibstätten dieses Schrifttyps, die Klöster Reichenau und St. Gallen, miteinander verbunden waren. In der Tat erscheint in vielen Fällen eine paläographische Trennung der beiden Bibliotheksbestände (noch) nicht möglich, doch verweisen die in dieser Arbeit vorgeschlagenen Scheidungen und Zuordnungen auf die Wichtigkeit, entsprechende Bemühungen weiter voranzutreiben. Zudem regt die Arbeit dazu an, in Zukunft auch regional und überregional vergleichende paläographische Untersuchungen stärker ins Blickfeld zu nehmen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. in Ansätzen Peter Erhart / Bernhard Zeller: Rätien und Alemannien - Schriftformen im Vergleich, in: Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen. Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien, hg. v. Hans Rudolf Sennhauser unter Mitarbeit von Kathrin Roth-Rubi und Eckart Kühne (Acta Müstair, Kloster St. Johann; Bd. 3), Zürich 2013, 299-318.

[2] Vgl. Beat von Scarpatetti: Schreiber-Zuweisungen in St. Galler Handschriften des achten und neunten Jahrhunderts, in: Codices Sangallenses. Festschrift für Johannes Duft zum 80. Geburtstag, hgg. v. Peter Ochsenbein und Ernst Ziegler, Sigmaringen 1995, 25-56.

[3] Vgl. schon Natalie Maag: Zum sogenannten St. Galler Wolfcoz-Evangelistar und dem Scriptorium der Reichenau unter Reginbert († 846), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 161 (2013), 1-10. Zu Wolfcoz vgl. nun auch den erst nach Maags Arbeit erschienenen Aufsatz von Beat von Scarpatetti: Ego Wolfcoz scripsi? Fragen um Subskriptionen und Schriftvarianten im St. Gallen des 9./10. Jahrhunderts, in: Urkunden-Schriften-Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik, hgg. v. Andreas Schwarcz / Katharina Kaska, Wien 2015, 39-59.

Bernhard Zeller