Rezension über:

Martin Brett / David A. Woodman (eds.): The Long Twelfth-Century View of the Anglo-Saxon Past (= Studies in Early Medieval Britain and Ireland), Aldershot: Ashgate 2015, XIV + 423 S., ISBN 978-1-4724-2817-2, GBP 85,00
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Rezension von:
Stephan Bruhn
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Bruhn: Rezension von: Martin Brett / David A. Woodman (eds.): The Long Twelfth-Century View of the Anglo-Saxon Past, Aldershot: Ashgate 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26907.html


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Martin Brett / David A. Woodman (eds.): The Long Twelfth-Century View of the Anglo-Saxon Past

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"The greatest advances in the study and understanding of Anglo-Saxon history made before the nineteenth century were those of the twelfth." [1] Dieses pointierte Diktum James Campbells hat auch gut 30 Jahre nach seiner Äußerung nicht an Aktualität verloren. In der Tat kann die Bedeutung der nach der normannischen Eroberung 1066 einsetzenden Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Zeit für deren Erforschung und moderne Wahrnehmung kaum unterschätzt werden. Betonte man dabei allerdings lange Zeit die vermeintliche 'Zuverlässigkeit' insbesondere der im 12. Jahrhundert entstehenden Historiographie, die man aufgrund der geringen Zahl vornormannischer Quellen immer wieder für Fragestellungen zum angelsächsischen England fruchtbar zu machen versuchte, haben neuere Forschungen die Standortgebundenheit dieser Werke ebenso herausgestellt wie die in ihnen greifbaren produktiven Aneignungsprozesse von Geschichte. So geschah die Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Vergangenheit keinesfalls 'vorurteilsfrei', sondern war geprägt durch das jeweilige sozio-kulturelle Entstehungsumfeld der Chroniken, welches die Wahrnehmung und Deutung von Geschichte anleitete und die Ausfertigung durch zeitgenössische argumentative Absichten und Instrumentalisierungen beeinflusste, deren Leitlinien sich allerdings keineswegs auf einen Dualismus von oder gar Antagonismus zwischen Angelsachsen und Normannen reduzieren lassen.

In dieses Spannungsfeld von Überlieferungsproblematik und aktiver Geschichtsnutzung ordnet sich auch der hier zu besprechende Sammelband ein, welcher die umrissene Forschungsdiskussion - so viel sei vorab bereits gesagt - durch das breite Spektrum der behandelten Themen und Quellen in vielerlei Hinsicht zu bereichern vermag. Die zusammengetragenen Beiträge beruhen dabei auf einer am 29. und 30. März 2011 am Robinson College in Cambridge abgehaltenen Tagung, deren Thema der produktive und vielschichtige Umgang mit der angelsächsischen Vergangenheit im 'langen' 12. Jahrhundert - unter welchem im Sinne einer pragmatischen Definition die Zeit zwischen der normannischen Eroberung und dem Beginn des 13. Jahrhunderts verstanden wird - war.

Nach einer kurzen Einleitung des Herausgebers Martin Brett, welche die Leitlinien und das Erkenntnispotenzial des Bandes konzis herleitet, sind die Einzelstudien in vier übergreifenden Themenbereichen zusammengefasst, welche die Programmatik der hier vorgebrachten Untersuchungen bereits erkennen lassen. So wird der Blick keineswegs nur auf "Geschichtskonstruktionen bzw. -aneignungen" im engeren Sinne - also Historiographie und Hagiographie - gerichtet; vielmehr wird ein weiter Geschichtsbegriff zugrunde gelegt, der auch die anglo-normannische Epik, Rechtssammlungen, Urkunden, schriftgeschichtliche Aspekte, liturgische Kontexte, Buchmalereien und bauliche Zeugnisse umfasst. Geschichte wird folglich als diskursives Konstrukt verstanden, welches in höchst unterschiedlichen Medien verhandelt wurde und zudem nicht allein auf die fertigen Produkte reduziert werden kann. Vielmehr müssen auch die vielfältigen Gebrauchs- und Produktionskontexte berücksichtigt werden, wie insbesondere die Beobachtungen zur 'Geschichtswerkstatt' in Durham (Rollason), zur Entstehung des "Eadwine Psalters" (Karkov), zur Schriftimitation in normannischen Kopien angelsächsischer Urkunden und ihrer Signifikanz im Kontext protoarchivalischer Aufbewahrungspraktiken (Crick), zur Rezeption angelsächsischer Urkunden (Vincent) oder zu Kompilationspraktiken normannischer Rechtssammlungen (O'Brien) verdeutlichen.

Als problematisch erweist sich die thematische Untergliederung des Bandes dabei insofern, als sie eine Trennung nach 'Quellengattungen' vorzunehmen versucht (Hagiographie, Historiographie, Rechtsquellen und im Bereich des 'Künstlerischen' zu verortende Quellen), die in dieser Form in den Beiträgen - bei aller Schwerpunktsetzung - nicht erkennbar ist. Vielmehr legt das Inhaltsverzeichnis eine Betonung des Trennenden nahe, wohingegen die Beiträge im Sinne des oben angerissenen Diskursverständnisses und der einführenden Bemerkungen Bretts zu Recht das Einende betonen. Insbesondere die als "Art History and the French Vernacular" betitelte vierte Sektion des Bandes erweist sich dabei als wenig aussagekräftig, scheint das einende Moment hier doch lediglich in dem Umstand zu bestehen, dass sich die hierunter versammelten Beiträge keiner der anderen Sektionen eindeutig zuordnen lassen.

Doch nicht nur mit Blick auf die für das Geschichtsverständnis der Epoche relevanten Quellen geht der Band über etablierte Grenzen hinaus, auch den zeitlichen Zuschnitt der Studien betreffend wird eine breitere Perspektive als bisher üblich verfolgt. Dies zeigt sich bereits in der Auswahl der Referenten respektive Autoren, bei denen es sich keineswegs nur um Experten zur frühnormannischen bzw. angevinischen Epoche handelt. Vielmehr sind etwa mit Rosalind Love oder David Rollason auch Beiträge von Forschern vertreten, deren Schwerpunkte eher in der Angelsachsenzeit zu verorten sind. Dies erweitert die Expertise, mit welcher das Themenfeld angegangen wird, ungemein, werden doch auch die angelsächsischen Geschichtsvorstellungen in die Untersuchung der produktiven Aneignungsprozesse des 12. Jahrhunderts miteinbezogen, die Frage nach den das Geschichtsverständnis der Epoche konstituierenden Faktoren somit aus der doppelten Perspektive der vorgefundenen Traditionen und der zeitgenössischen Erfordernisse beleuchtet. Diese Erweiterung erweist sich etwa mit Blick auf den kunstgeschichtlich ausgerichteten Artikel von Malcolm Thurlby von Vorteil, zeigt der Autor durch Rekurs auf architektonisch-skulpturale Befunde und im Vergleich mit Handschriftenilluminationen doch, dass viele vermeintlich originär "normannische" Stilelemente im Kirchenbau an angelsächsische Traditionen angelehnt oder gar vor 1066 zu datieren sind.

Ähnlich grundlegende Aspekte wie die Datierungsfragen Thurlbys behandeln auch die Aufsätze von Rosalind Love und David Rollason, sind sie doch beide im Zuge laufender Editions- und Übersetzungsarbeiten für die Reihe der "Oxford Medieval Texts" entstanden. Insbesondere die von Rollason vorgebrachten Thesen und Beobachtungen zur komplexen Überlieferungsgestalt der bisher Symeon von Durham zugeschriebenen sogenannten Historia de regibus Anglorum et Dacorum stellt viele Gewissheiten der älteren Forschung überzeugend infrage und zeigt somit exemplarisch auf, wie unzureichend die Quellen für viele der hier behandelten Themenbereiche erschlossen sind.

Dass die betont multiperspektivische Auseinandersetzung auch Herausforderungen birgt, wird mitunter ebenfalls greifbar. Julia Barrow etwa untersucht in ihrer Studie das in vielen Chroniken des 12. Jahrhunderts nachweisbare Narrativ der durch Wikingereinfälle verwüsteten angelsächsischen Klöster. Hierbei zeigt sie auch Bezüge zu vornormannischen Darstellungsweisen sowohl im angelsächsischen England als auch auf dem Kontinent auf. So sinnvoll und wichtig die relativ intensive Auseinandersetzung mit diesen Erzähltraditionen für die Argumentation Barrows auch ist, sie drängt den eigentlichen Untersuchungsgegenstand - den produktiven Umgang mit diesen Traditionen im 12. Jahrhundert - in den Hintergrund.

Abgerundet wird der Band durch eine Gesamtbibliographie, welche die in den Beiträgen zitierten Quellen und Literaturtitel nochmals zusammenführt, ein Verzeichnis der Handschriften sowie ein Register, welches sowohl Orte und Personen als auch Quellen und Themengebiete umfasst und somit eine nützliche Orientierungshilfe bietet. Mit Blick auf die vornehmlich im Rekurs auf Bildquellen und Sachzeugnisse argumentierenden Aufsätze von Thurlby und Karkov hätte sich der Rezensent allerdings eine stärkere Bebilderung gewünscht. Negativ fällt zudem die unzureichende Auflösung der Abbildungen "14.3" (298) und "15.1" (302) auf.

Den inhaltlichen Ertrag einer Lektüre des Bandes vermögen diese kleineren Unzulänglichkeiten indes nicht zu schmälern. Das große Verdienst der hier zusammengetragenen Studien ist sowohl in der zeitlichen wie in der thematischen Breite der Zugangsweise zu sehen, mit welcher das englische Geschichtsbewusstsein des 12. Jahrhunderts untersucht wird. Zwar wäre eine stärkere Einordnung der diskutierten Befunde in eine europäisch-vergleichende Perspektive stellenweise lohnenswert gewesen, um die Spezifika wie die Berührungspunkte des in England nachweisbaren produktiven Umganges mit Vergangenheit gegenüber Erscheinungsformen auf dem Kontinent stärker konturieren zu können. Den insgesamt sehr positiven Eindruck des Sammelwerkes vermag diese als ergänzender Hinweis zu verstehende Anmerkung indes in keiner Weise zu mindern. Sie zeigt im Gegenteil, wie groß der Forschungsbedarf in diesem Bereich noch ist. Dem Band ist daher eine breite Rezeption zu wünschen, scheint er doch nicht zuletzt aufgrund seines innovativen Zugangs in besonderer Weise dazu geeignet, dem Forschungsdiskurs neue Impulse zu verleihen.


Anmerkung:

[1] James Campbell: Some Twelfth-Century Views of the Anglo-Saxon Past, in: Ders. (ed.): Essays in Anglo-Saxon History: 400-1200, London / Ronceverte 1986, 208-228, hier 209.

Stephan Bruhn