Rezension über:

Irene Bierman / Sylvie Denoix: L'exercise du pouvoir à l'âge des sultanats. Production, manifestation, réception (= Annales islamologiques; 46), Kairo: Institut français d'archéologie orientale 2012, XIX + 555 S., ISBN 978-2-7247-0633-8, EUR 75,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Tilmann Kulke
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Irene Bierman / Sylvie Denoix: L'exercise du pouvoir à l'âge des sultanats. Production, manifestation, réception, Kairo: Institut français d'archéologie orientale 2012, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/27501.html


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Irene Bierman / Sylvie Denoix: L'exercise du pouvoir à l'âge des sultanats

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Das französische Wissenschaftssystem zu durchschauen, ist aus deutscher Perspektive eine nicht ganz einfache Angelegenheit. Es braucht schon eine Weile, bis man zum Beispiel versteht, in welchem Verhältnis die ca. 15 Pariser Universitäten zueinander stehen. Die Kolleg/inn/en können schon sehr pikiert reagieren, wenn man Paris IV mit Paris I oder gar mit Paris XIII verwechselt und umgekehrt... Darüber hinaus muss man natürlich wissen, dass das Centre national de recherche scientifique (CNRS) als nationale französische Forschungsorganisation unabhängig agiert und direkt dem Ministerium für Forschung unterstellt ist. Teil des CNRS ist das sehr bedeutende Institut français d'archéologie orientale (Ifao) mit Sitz in Kairo. Für die Islamwissenschaftler ist bisweilen außerdem das traditionsreiche Institut national des langues et civilisations orientales (INALCO) ebenso wichtig wie die in Paris, Marseille und Toulouse ansässige École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), die versucht, möglichst viele Disziplinen sozialwissenschaftlich zu fassen. Damit aber noch nicht genug, denn es gibt ferner über 800 Unités mixtes de recherche (UMR), die in der Regel von universitären Einrichtungen und dem CRNS getragen werden. Grundlage für die Etablierung einer UMR bildet ein auf vier bis fünf Jahre geschlossener Vertrag mit dem Ministerium für Hochschulwesen und wissenschaftliche Forschung. Für die Mamlukenforscher ist beispielsweise die Pariser UMR 8167 "Le laboratoire Orient & Méditerranée. Textes - Archéologie - Histoire" von großer Bedeutung, da eine der Sektionen die von Sylvie Denoix geleitete l'équipe Islam médiéval darstellt, die in den letzten Jahre zahlreiche für die Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert relevante Veranstaltungen durchgeführt und hochwertige Publikationen vorgelegt hat. Zu den Mitgliedern dieser forschungsstarken und öffentlichkeitswirksamen équipe zählen neben Sylvie Denoix etwa Denise Aigle, Anne-Marie Eddé, Françoise Micheau, Mathieu Tillier oder Éric Vallet, um nur einige zu nennen.

Sylvie Denoix war es auch, die in ihrer damaligen Funktion als Directrice des études am Ifao ein Projekt zu einem erfolgreichen Ende in Form eines Sammelbandes brachte, das ihr Vorgänger zusammen mit Irene A. Bierman vom American Research Center in Egypt (ARCE) unter Mithilfe von Julien Loiseau entwickelt und betreut hatte. Das über vier Jahre gemeinsam untersuchte Oberthema des Vorhabens lautete "Exercising Power in the Age oft he Sultanates: Production, Manifestation, Reception/L'exercice du pouvoir à l'âge des sultanats. Production, manifestation, réception." Insgesamt sind 14 Beiträge zusammengekommen, die ein weites zeitliches und regionales Spektrum abdecken. Zusammengehalten werden sie durch die von Sylvie Denoix in ihrer Einleitung (Introduction: Les sultanats. Des pouvoirs absolus, en interaction avec les sociétés qu'ils gouvernent, 3-12) präsentierten Definition von Macht und Herrschaft in Zeiten des Sultanates. Dabei geht sie von einem recht vagen relationalen und fluiden Machtbegriff aus, der sich in dem komplexen Verhältnis gesellschaftlicher Gruppen zueinander manifestiert. Als wesentlichen Unterschied zu den Verhältnissen in der Kalifatszeit sieht sie zum einen die Entsakralisierung der Herrschaft und zum anderen die direkte Interaktion zwischen den Machthabern und dem Volk. Ob dem wirklich zuzustimmen ist, sei einmal dahingestellt. Die Einführung scheint mir insgesamt doch ein wenig zu kurz geraten zu sein, um wirklich als ein tragfähiges und durchdachtes Konzept gelten zu können. Das führt dazu, dass sich die Beiträger auch nicht auf kohärente theoretische Überlegungen beziehen können, sondern die Begriffe - wenn überhaupt! - recht beliebig verwenden. Da helfen auch die drei Zwischentitel, unter denen jeweils ein Bündel von Aufsätzen subsummiert wird, nicht wirklich weiter. Insgesamt handelt es sich doch mehr um Einzelstudien als eine durchdachte Ansammlung von auf ein Thema ausgerichteten Analysen. Unter der Rubrik "L'égalité et légitimité du pouvoir" beschäftigen sich drei der vier Artikel mit der Mamlukenzeit. Jere L. Bacharach und Sherif Anwar streifen in ihrer Darstellung des bewusst von den Sultanen initiierten visuellen Wandels von Münzen (Coinage and their Visual Messages in the Age of the Sultanate. The Case of Egypt and Syria, 15-44) auch die Ambitionen mamlukischer Regenten. Mathieu Eychenne zeigt dann an dem Beispiel des Gouverneurs Karīm al-Dīn al-Kabīr, wie wichtig selbst für eine durchaus uneingeschränkte Machtausübung der Aufbau von Netzwerken war (Réseau, pratiques et pouvoir(s) au début du XIV e siècle. L'exemple de Karīm al-Dīn al-Kabīr, administrateur civil dans le système mamelouk, 45-66). Ein Beispiel für die herrscherliche Macht führt uns dann Julien Loiseau in seinem Text "L'affaire al-Safṭī (1448-1450). Pouvoir souverain et usages de la légalité à l'époque mamelouke" (67-78) vor Augen. Durch die Protektion von Sultan Ǧaqmaq hatte Muḥammad al-Safṭī eine glänzende Karriere machen können. Plötzlich fiel er jedoch in Ungnade und sein ehemaliger Patron überzog ihn mit Rechtsklagen, um auf diese Weise an seinen Besitz zu gelangen.

Der zweite Block von Aufsätzen, der den Titel "L'inscription du pouvoir dans l'espace urbain et régional" trägt, widmet sich urbanen und regionalen Kontexten. Von den sechs Texten fallen vier in das Gebiet unseres Forums. Bethany Walker kann sehr schön das komplexe und zum Teil durchaus symbiotische Verhältnis von zentraler Macht und lokalen Verhältnissen am Beispiel der mamlukischen Landpolitik und den Auswirkungen der allgemeinen Krisensituation im 15. Jahrhundert in Jordanien beschreiben (The Agricultural Dimension of Imperial-Peasant Relations in Mamluk Jordan, 95-114), wohingegen mir der Bezug von May Al-Ibrashys "The Life and Times of the Mamluk Turba. Processual Subversion of Inceptual Intent" (145-166) zum Oberthema des Sammelbandes recht unklar geblieben ist. Folgt man der anfangs genannten Definition von 'Macht' oder fasst man das Phänomen nach Max Weber als "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" (und 'Herrschaft' als "die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden"), so haben die von al-Nāṣir Muḥammad angeordneten Investitionen in die städtische Entwicklung im 14. Jahrhundert und die von al-Sulṭān al-Muʾayyad Šayḫ entlang der Darb al-Aḥmar-Strasse errichteten Gebäude, auf die Valentine Denizeau und Sylvie Denoix bzw. Nairy Hampikian eingehen (Le sultan promoteur. Aménagement urbain dans Le Caire du VIIIe/XIVe siècle, 167-194 und Mu'ayyad Šayḫ and the Landscape of Power, 195-214), nur wenig damit zu tun. Letztlich gilt das auch für die drei restlichen für uns relevanten Artikel des letzten, "Pratiques de l'écrit et exercise du pouvoir" benannten Abschnittes.

Damit soll aber natürlich nicht in Abrede gestellt werden, dass Richard McGregors "Sufis and Soldiers in Mamluk Cairo. Parading the Aesthetics of Agency" (215-226), Éric Vallets "Des «sultans-secrétaires«? Pratique de l'archive et savoirs encyclopédiques dans l'État rasūlide (VIIe-IXe/XIIIe-XVe siècles)" (229-254) und Saïd M'hameds "Une waqfiyya sultanienne du Yémen. L'acte de fondation de la madrasa al-Ašrafiyya de Taʿizz (803/1400)" (255-272) - wie auch alle anderen Beiträge des Sammelbandes - jeder für sich ausgezeichnete Fachaufsätze sind. Ganz im Gegenteil: wer die Studien der Kolleginnen und Kollegen aufmerksam liest, wird reichlich belohnt werden. Sie alle sind auf höchstem Niveau verfasst und bieten tiefe Einsichten in die unterschiedlichen individuellen Forschungsfelder. Allerdings fügen sie sich leider nicht zu einer auf eine konkrete, aus der Theorie abgeleitete Fragestellung bezogenen Gesamtschau. Da hätte man bei einem vierjährigen Projekt doch etwas mehr erwartet.

Stephan Conermann