Rezension über:

Volker Stalmann (Bearb.): Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19. Unter Mitwirkung von Jutta Stehling (= Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19; Bd. IV), Düsseldorf: Droste 2013, 1100 S., ISBN 978-3-7700-5319-3, EUR 160,00
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Rezension von:
Alexander Gallus
Technische Universität, Chemnitz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Gallus: Rezension von: Volker Stalmann (Bearb.): Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19. Unter Mitwirkung von Jutta Stehling, Düsseldorf: Droste 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/24495.html


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Volker Stalmann (Bearb.): Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19

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Die Bewertung der Räte in der deutschen Revolution 1918/19 bewegte vor rund einem halben Jahrhundert nicht nur die Gemüter der historischen Forschung. In den "dynamischen Sechzigern" der heraufziehenden Studentenbewegung kam das Nachdenken über ein Rätesystem als Alternative zur parlamentarischen Ordnung wieder in Mode. Wie wir wissen, blieb es bei Gedankenspielen, und auch die bisweilen hoch aufwogende geschichtswissenschaftliche (vielfach geschichtspolitische) Diskussion um die Taxierung der Arbeiter- und Soldatenräte innerhalb der Revolution am Ausgang des Ersten Weltkriegs beruhigte sich. Es ist seitdem ein Zustand diskursiver Ebbe eingetreten. Das mag auch daran liegen, dass die Novemberrevolution für das Verständnis einer Problemgeschichte unserer Gegenwart stark an Relevanz verloren hat. Das war, wie schon angedeutet, nicht immer der Fall. So atmete Karl Dietrich Erdmanns These aus den 1950er-Jahren vom Entweder-oder zwischen Bolschewismus und westlicher Demokratie, um das es 1918/19 - angeblich - gegangen sei, den Hauch des Kalten Krieges.

Räteaktivisten, die im Folgejahrzehnt auf einen entsprechenden Wandel hofften, lehnten dieses binäre Modell aus politisch-ideologischen Gründen und der Sehnsucht nach einem "dritten Weg" heraus ab. Ins Wanken brachte die Erdmann'sche Sichtweise indes die unaufgeregte zeithistorische und politikwissenschaftliche Forschung, die bereits am Anfang der 1960er-Jahre auf breiter Quellengrundlage die Zusammensetzung, Arbeitsweise und Leitvorstellungen der Arbeiter- und Soldatenräte mit großer Akribie rekonstruierte: Eberhard Kolbs "Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919" erschien erstmals 1962, ein Jahr darauf dann Peter von Oertzens "Betriebsräte in der Novemberrevolution". Ungeachtet einiger markanter Auffassungsunterschiede - zur Ermöglichung einer "sozialen Demokratie" durch die Räte -, wiesen doch beide überzeugend nach, wie wenig nur die Arbeiter- und Soldatenräte einen russischen Weg beschreiten und die Bolschewisierung des Landes betreiben wollten. Letztlich gaben in diesen Revolutionsgremien (gemäßigt) sozialdemokratische und gewerkschaftliche Kräfte, nicht so sehr Linksradikale, am Ende den Ton an. In ihnen schlummerte insgesamt ein Demokratisierungspotential, das nur unzureichend wachgerufen worden sei.

Ein beträchtlicher Teil der für diese beiden Studien ausgehobenen Archivquellen sollte in der Folgezeit in Form von wissenschaftlichen Editionen erscheinen. Insbesondere die Bonner, mittlerweile Berliner Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien machte sich um diese historische Grundlagenforschung verdient. Sie rief die Reihe "Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19" ins Leben. 1968 kam als erster der von Eberhard Kolb und Reinhard Rürup bearbeitete Band zum "Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik" heraus, bevor 1976 ein von Kolb und Klaus Schönhoven aufbereitetes Quellenkonvolut "Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg" dokumentierte, gefolgt 1980 von einer durch Peter Brandt und Rürup vorbildlich eingeleiteten und kommentierten Edition über "Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden".

Es ist bezeichnend für die Forschungssituation zur deutschen Revolution 1918/19, dass für mehr als dreißig Jahre kein weiterer Band in der Reihe veröffentlicht werden sollte. Erst die hier vorzustellende Quellendokumentation zum Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat beendet diese Flaute und schließt - auch qualitativ - an die Tradition der Reihe als nunmehr vierter Band gelungen an. Die Edition setzt mit einer ebenso sachkundigen wie lesenswerten Einleitung (im Umfang einer eigenen Monografie) ein, die das folgende Quellenmassiv kontextualisiert und kartografiert sowie mit dem Forschungsstand verbindet. Die Fußnoten zu den 114 abgedruckten Quellenstücken (aus dem Zeitraum vom 6. November 1918 bis zum 24. März 1919) - darunter 76 Sitzungsprotokolle des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats - enthalten biografische Informationen, Querverweise, ergänzende Quellenfunde und Erläuterungen zum Zusammenhang. Ein Personen- und Sachregister macht den umfangreichen Band auch als Nachschlagewerk handhabbar. Inhaltlich kann Volker Stalmann in vielerlei Hinsicht an Volker Ullrichs Dissertationsschrift aus dem Jahr 1976 über die "Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19" anknüpfen, die nicht zuletzt aufgrund der ausgiebigen Nutzung und Analyse von Primärquellen von bleibendem Wert ist.

Stalmann blickt in die Zeit vor der Revolution zurück, auch um zu erklären, weshalb in den Hamburger Räten, zumindest im November und Dezember 1918, Kräfte der USPD und der Linksradikalen - vor allem in Person des Ersten Vorsitzenden des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats Dr. Heinrich Laufenberg - an der Spitze standen. Schließlich war Hamburg traditionell eine Hochburg reformorientierter Sozialdemokraten und gut organisierter Gewerkschaften. Während des Ersten Weltkriegs wurde deren Stellung nicht nur aufgrund der Burgfriedenspolitik geschwächt, sondern auch angesichts der materiellen Verarmung der Arbeiter gepaart mit verschärften Arbeitsbedingungen im Zeichen der Kriegswirtschaft. Die Integrationsfähigkeit der etablierten Kräfte ließ im Laufe von Hungerkrisen und Streikwellen 1917/18 nach. Während des Januarstreiks 1918, der rund 30.000 Arbeiter aus den Werften und der Metallindustrie zum Protest zusammenführte, war die Streikleitung nicht zuletzt durch die Revolution in Russland motiviert, sich künftig in Form von Räten aufzustellen.

Dies war in den meisten Fällen indes ein von spontaner Euphorie getragener Wunsch, der keineswegs auf die Übernahme des Bolschewismus zielte. Insbesondere Laufenberg verdeutlichte auch später noch, wie sehr sich die deutsche von der russischen Situation unterschied. Er verband ein vages Rätewollen mit der Ablehnung der "politische[n] Methode der Bolschewisten" (560), die in seinen Augen bisweilen terroristische Züge annehmen konnte. Solche "extremste Gruppen" (265), wie sie sich zum Teil innerhalb der deutschen sozialistischen Arbeiterschaft fanden, suchte er auf Distanz zu halten. Laufenberg übte sich in der Rolle eines großen Integrators, der die Einheit der Arbeiterbewegung gewahrt respektive hergestellt sehen wollte. An der Klarheit seiner politischen Ziele bestanden jedoch von Anfang an Zweifel. Darauf deutet sein Kompromissvorschlag hin, parlamentarisches und Rätesystem miteinander kombinieren zu wollen. Schon in der in dieser Hinsicht besonders aufschlussreichen Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates vom 22. November 1918 hielt der USPD-Mann Dr. Carl Herz ein solches Ansinnen "theoretisch und praktisch für undurchführbar" (259). Die Zustimmung von Experten der späteren politikwissenschaftlichen Regierungslehre (mit Ernst Fraenkel an vorderster Stelle) dürfte ihm dafür gewiss sein.

Wie sehr Laufenberg während der ersten beiden Revolutionsmonate auf Kompromisse eingestellt war, zeigt sich auch an der Tatsache eines mit Senat und Bürgerschaft zusammenarbeitenden Arbeiter- und Soldatenrats. Nur für wenige Tage wurde diese alt-ehrwürdige Machtbastion des Bürgertums abgeschafft. Dann musste das neue Revolutionsgremium einigermaßen ernüchtert feststellen, wie sehr es auf den alten Apparat und deren Repräsentanten für funktionierendes Verwaltungshandeln angewiesen war, wenngleich die politische Macht fortan beim Rätegremium liegen sollte. Anders ließen sich die drängenden tagespolitischen Herausforderungen in den Wochen und Monaten des Nachkriegs nicht bewältigen.

Nicht zuletzt verfassungs- und sozialpolitisch hing der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat zudem gleichsam am Tropf der Berliner Zentrale. Auch das Umschlagen der Revolution in eine zweite, gewaltsame Phase ab den Weihnachtstagen 1918 erschien in vielerlei Hinsicht wie ein Reflex der Verhältnisse in der Reichshauptstadt. Nun sehe man einer Zeit entgegen, "die kritisch zu werden anfängt" (477), bemerkte Herz am 2. Januar 1919 zutreffend. Die Zerwürfnisse innerhalb der Arbeiterbewegung wurden unübersehbar. Abfälligen Titulierungen für den "Vorwärts" vergleichbar galt das sozialdemokratische "Hamburger Echo" Linksaußenstreitern bald als das "scharfmacherische Blatt der rechtsstehenden Partei" (519). Nachdem Laufenberg das Wort von der "Verräterpolitik" gegenüber den Mehrheitssozialdemokraten geäußert hatte (85), verlor er spätestens seine Autorität als parteiübergreifender Vermittler. Überhaupt gewannen in jener Phase, die Herz am 17. Januar 1919 mit dem Wort "Durcheinanderregieren" (609) gut einfasste, die erfahrenen und organisatorisch zunehmend neu konsolidierten Vertreter der alten Arbeiterbewegung wieder die Oberhand. Sie strebten nach einer parlamentarisch gewählten Nationalversammlung im Reich wie einer ebenso zu bildenden Bürgerschaft in Hamburg. Dieser Weg setzte sich am Ende durch, und der Arbeiter- und Soldatenrat verlor in den ersten Monaten des Jahres 1919 stetig an Einfluss. Nach der Hamburgischen Bürgerschaftswahl am 16. März wurde die seit dem 11. November auf dem Rathaus gehisste rote Fahne eingeholt, bald darauf löste sich der Arbeiter- und Soldatenrat auf. Laufenberg hatte schon am 10. Januar in einem Anflug aus Resignation und Ambition bedauert, "bei der Revolution stehen" zu bleiben, "wie sie ist": "Sie wird keine sozialistische, sie bleibt eine politische, und dann ist es selbstverständlich, daß wir keine sozialistische Republik bekommen, sondern eine kapitalistische" (560).

Von solchen Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen, von zeitgenössischen Erwartungen und Erfahrungen legt diese Aktenedition eindrucksvoll Zeugnis ab. Sie beleuchtet die Lage in Groß Hamburg und weist doch klar über dessen Grenzen hinaus. Jene Zeitspanne, als in Deutschland Revolution war, präsentiert sich als eine Phase aufregender, ungewisser Entwicklung. Es lohnt sich in diesem Prozessionszug der Geschichte gleichsam mitzulaufen, ohne das Ende zu kennen oder gar die ebenso alte wie ermüdende Frage nach verpassten Chancen, Handlungszwängen und -möglichkeiten fortzuschreiben - um dann doch nur auf der kontrafaktischen Stelle zu treten. Die bereits von zeitgenössischen Akteuren und Beobachtern vorgebrachte Mahnung, die "Revolutionsstimmung" und jene "Psyche, die die Revolution geschaffen hat" (258), stärker in Betracht zu ziehen, ist auch für heutige Historiker der Umbruchsphase 1918/19 ein bedenkenswerter Fingerzeig.

Alexander Gallus