Rezension über:

Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960-1975 (= Reihe "Globalgeschichte"; Bd. 16), Frankfurt/M.: Campus 2014, 646 S., ISBN 978-3-593-50074-4, EUR 56,00
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Rezension von:
Alexander Keese
Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Agnes Bresselau von Bressensdorf im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Keese: Rezension von: Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960-1975, Frankfurt/M.: Campus 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/26383.html


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Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe

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Es ist eines der Ziele globalgeschichtlichen Herangehens, Konzepte in ihrer Langzeitentstehung nachzuzeichnen, sie über verschiedene Ebenen und TrägerInnengruppen in unterschiedlichen Weltregionen hinweg zu verfolgen und die Praxis zum Konzept durch Fallstudien zu beleuchten. Hubertus Büschel setzt in seiner Monographie zu solch einem ambitionierten Forschungsdesign an. Er identifiziert in einem ersten Teil die Konturen des Konzepts der "Hilfe zur Selbsthilfe" - ein, wie Büschel überzeugend ausführt, zwischen 1960 und 1975 dominantes Konzept zum wirtschaftlichen Aufbau in sogenannten "Entwicklungsländern", in welchem auf behutsame Anleitung zu autonomem Handeln gesetzt wurde. Der Autor betrachtet die Rolle des Konzepts vor allem innerhalb der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz (51-77), aber auch in der Anknüpfung an spätkoloniale Entwicklungskonzepte aus den französischen und britischen Kolonien des subsaharischen Afrikas (162-174).

Der zweite Teil der Studie widmet sich der Expertenauswahl und der Erstellung der jeweiligen konkreten Leitlinien des Handelns vor Ort. Büschel arbeitet dabei klar heraus, dass die Aktivität im lokalen Rahmen vielfach an Konflikten zwischen den Zielen der Experten einerseits, jenen der betroffenen Bevölkerungen andererseits, und den Absichten der Zentralregierungen in den vom Autor betrachteten Einsatzregionen - Togo, Kamerun, Tansania-Sansibar - scheiterte. Beißende Kritik am Versagen des Vorgehens fand sich dementsprechend in einem Bericht des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1971; in der DDR wurden entsprechende negative Einschätzungen nur intern kommentiert, aber ebenfalls formuliert (286-287). Der Rückgriff auf jüngere, für die konkrete Tätigkeit angelernte und entsandte EntwicklungshelferInnen als Alternative zu den Experten findet in der Folge durch Hubertus Büschel eine gründliche Betrachtung. Hier werden sowohl die rigide, verwissenschaftlichte, zum Teil überaus autoritäre KandidatInnenauswahl und das vorbereitende Training durch den Deutschen Entwicklungsdienst thematisiert (351-364), als auch, kürzer, die Vorbereitung von "Freundschaftsbrigaden" durch die Freie Deutsche Jugend in der DDR-Variante von Entwicklungshilfe (364-366).

In beide Teile baut Büschel beeindruckende, längere Betrachtungsbögen ein - im ersten Teil zur Geschichte der Idee der "Hilfe zur Selbsthilfe" als europäisches und nordamerikanisches theoretisches Konzept sowie praktisches Experimentierfeld (116-147), im zweiten, kürzer gehalten, zum Hintergrund der von jungen AktivistInnen getragenen Entwicklungshilfe (306-314). Auch versucht der Autor, die Verbindungen zwischen west- und ostdeutschen sowie britischen und französischen spätkolonialen Praktiken einerseits und jenen lokaler Experten- und Jugendarbeitskultur in den betrachteten afrikanischen Staaten andererseits herauszuarbeiten. Im Falle der Experten wurde dies vor allem mit Schwerpunkt auf den tansanischen Fall geleistet (S. 206-219), kursorisch dann eher für Togo (S. 220-221) und Kamerun (S. 221-226). Die Überlegungen zu Jugendarbeit im nachkolonialen Afrika sprechen, wenngleich in generalisierender Form, das von der Geschichtswissenschaft noch wenig beackerte Feld verpflichtender Arbeitsdienste nach den Unabhängigkeiten an (S. 334-338).

Der dritte Teil des Buches bietet drei konkrete Fallstudien zu Erfahrungen im praktischen Einsatz von "Hilfe zur Selbsthilfe", wie sie innerhalb von west- und ostdeutschen Projekten vor Ort gemacht wurden, sowie ein Unterkapitel zu Gewalt im Rahmen der tansanischen Entwicklungspolitik der späten 1960er Jahre. In den drei Musterdörfern Agou-Nyogbo, Notsé-Agbalebeme und Kambolé in Togo scheiterte ein bundesdeutsches Projekt für landwirtschaftliche Entwicklung nach anfänglich begeistertem Optimismus von Seiten der deutschen Experten wie der togoischen Verwaltungsinstanzen. Das Projekt erlitt vor allem vor dem Hintergrund Schiffbruch, dass lokale Bevölkerungen keineswegs zu unbezahlter Arbeit im Projektrahmen bereitstanden; immer wieder wurde der Vorwurf eines versteckten Kolonialismus laut (401-435). Für ein von Büschel kürzer diskutiertes landwirtschaftliches Projekt in Wum, Kamerun, fanden die bundesdeutschen Experten erst gar keine freiwilligen Arbeitskräfte. Es wurde stattdessen im Verbund mit einem Gefangenenlager betrieben, was mittelfristig ebenfalls für Proteste und schließlich die Aufgabe der Aktivität sorgte (437-451). Sehr ausführlich sind Dokumentation und Analyse Büschels zu dem vom Wirken einer FDJ-Freundschaftsbrigade geprägten Bauprojekt "Bambi" auf der Insel Sansibar. Folgt man dem Autor, dann verschlechterten sich auch hier anfänglich als "harmonisch" gedeutete Bedingungen bis hin zu vielfältigen Konflikten. Sansibarische Experten zeigten sich unzufrieden mit dem Auftreten der DDR-Entwicklungshelfer; der Kontakt der letzteren zu lokalen Bevölkerungen wurde eingeschränkt. 1970/71 führten die Unstimmigkeiten schließlich zur erzwungenen Abreise der DDR-AufbauhelferInnen (452-481).

So ausgezeichnet die Studie in der Interpretation von Entwicklungskonzepten und ihren deutschen TrägerInnen daherkommt, treten dort, wo der Autor gleichzeitig eine Analyse lokaler Wahrnehmungen, Konflikte und Austauschprozesse verspricht, Probleme auf. Erstens lassen zumindest zwei der drei Fallstudien konkreten Handelns vor Ort eine Interpretation vermissen, die auch die lokalen Akteure differenzierter betrachtet. Zur togoischen Fallstudie werden überhaupt kein Kontext und nur wenig Tiefgang in der Analyse der Situation vor Ort geboten. Weder zur spezifischen Entwicklung der togoischen Politik der ersten Jahre nach der Unabhängigkeit unter den Regierungen von Sylvanus Olympio und Nicolas Grunitzky, noch zur sozialen und politischen Situation von Regionen wie Agou-Nyogbo oder Notsé, die ausschließlich aus der Perspektive der Experten und Entwicklungshelfer abgehandelt werden. Obschon einige Dokumente aus den Archives Nationales Togolaises herangezogen werden, stehen diese vereinzelt da; Sekundärliteratur wird mit wenigen Ausnahmen gar nicht analysiert, obschon sie ja gerade zur "Ewe-Region" Togos durchaus vorhanden ist. Die kamerunische Fallstudie hat ganz ähnliche Probleme. Anders sieht es im Hinblick auf die tansanische Fallstudie aus, wo Hubertus Büschel sinnvoll Quellenmaterial vor Ort mit einer Analyse der einschlägigen Literatur zur Thematik (vor allem der wichtigen Arbeiten von Andreas Eckert) kombiniert - man hätte sich vielleicht, angesichts des beeindruckenden Aufwandes der Gesamtanalyse, auf den tansanischen Fall beschränken können, der als einziger die deutsch-deutsche Konkurrenz entwicklungspolitischer Praktiken in einer größeren Region zur vergleichenden Analyse bietet.

Zweitens wird auch die Kategorie der "afrikanischen Experten" allzu generalisierend verwendet. Hier wäre es erneut sinnvoll gewesen, stärker in die Tiefe zu gehen - aufgrund regionaler Bedürfnisse und spezifischer spätkolonialer Praktiken waren nämlich die Ziele solcher Experten in verschiedenen nachkolonialen Staaten durchaus sehr unterschiedlich. Und wenngleich das Problem des Arbeitszwanges in ländlichen Aufbauprojekten eine Frage ist, die in der Tat in verschiedenen postkolonialen Kontexten vor 1975 immer wieder auftaucht, ist auch hier die tansanische etwa von der togoischen Erfahrung sehr klar zu unterscheiden. Diese Differenzen müssten sehr viel klarer herausgearbeitet werden. Nur dann wäre auch das - in der vorliegenden Form - sehr stark losgelöste Unterkapitel zu tansanischer Entwicklungspraxis und Gewalt im Handeni-Distrikt (487-507) wirklich sinnvoll.

Drittens schließlich wäre es für die LeserInnenschaft interessant gewesen, einen Ausblick auf die Wirkungskraft des Konzeptes, vor allem auch für die beiden deutschen Entwicklungshilfestränge nach 1975, zu erhalten. Endete das Streben nach "Hilfe zur Selbsthilfe" in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre? Wurde die doch relativ geballte Kritik, die um 1970 herum formuliert wurde, zum Ausgangspunkt eines anderen Auftretens in wirtschaftlicher Zusammenarbeit - oder waren es eher die Prioritätenverschiebungen im Kalten Krieg und die veränderten weltwirtschaftlichen Zusammenhänge in den 1970er Jahren, die Konzepte der Aufbauhilfe wandelten?

Insgesamt handelt es sich hier um ein wichtiges Buch. Der Autor arbeitet große Linien eines globalhistorischen Phänomens heraus und stellt sie in den Kontext deutsch-deutscher Systemkonkurrenz. Büschels Studie ist damit ein neuer grundlegender Beitrag in der führenden deutschsprachigen Reihe zu globalgeschichtlichen Fragestellungen.

Alexander Keese