Rezension über:

András Vári / Judit Pál / Stefan Brakensiek: Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert (= Adelswelten; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 397 S., 19 Farb-, 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-22145-4, EUR 49,90
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Rezension von:
András Oross
Ungarische Archivdelegation beim Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
András Oross: Rezension von: András Vári / Judit Pál / Stefan Brakensiek: Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/26566.html


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András Vári / Judit Pál / Stefan Brakensiek: Herrschaft an der Grenze

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Das vorliegende Buch hat zwei große Vorteile. Einerseits ist es auf Deutsch zu lesen, und deshalb kann die europäische Geschichtswissenschaft von den Resultaten dieses deutsch-ungarisch-tschechisch-rumänischen Projektes leichter Kenntnis nehmen. Dieses Forschungsprojekt (Frühneuzeitliche Institutionen in ihrem sozialen Kontext - Praktiken lokaler Politik, Justiz und Verwaltung im internationalen Vergleich) war an drei Universitäten in drei Ländern angesiedelt und zielte darauf ab, "Mikrostudien zur Herrschaftspraxis im 17./18. Jahrhundert zu fertigen [...]" (9). Andererseits sollten die "modernen" Fragestellungen und Methode als Vorbild für weitere Studien dienen, hoffentlich nicht nur für ungarische Historiker.

Es muss auch betont werden, dass in der ungarischen Geschichtsschreibung die Epoche zwischen dem Frieden mit den ungarischen Rebellen 1711 und der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts lange nur mangelhaft behandelt wurde. In den letzten Jahren haben sich jedoch die Fragestellungen verändert und vor allem auf der Ebene der Herrschaftsgeschichte und der Stadtgeschichte liegen neue Ergebnisse vor - dieses Projekt passt also zu den neuen Forschungen.

Das Buch besteht aus 9 Kapiteln, selbst die Autoren sprechen in der Einführung aus, dass "die Autorschaft der einzelnen Kapitel nicht immer völlig eindeutig zu bestimmen ist" (10). Die Einführung wurde gemeinsam verfasst und stellt nicht nur die bearbeiteten Quellen und die wichtigsten Fragestellungen vor, sondern auch den Ort, das Zeitalter, die Menschen und die Institutionen, die in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielten. Der Ort ist das Komitat Sathmar / Szatmár, ein Verwaltungsgebiet an der östlichen Grenze des Königreichs Ungarn zum Fürstentum Siebenbürgen. Heute liegt der kleinere Teil des ehemaligen Komitats im Nordosten Ungarns (Szabolcs-Szatmár-Bereg megye), der größere Teil im Nordwesten Rumäniens (Judeţul Satu Mare).

Das Besondere der Untersuchung ist es gerade, ein spezielles Gebiet in einem spannenden Zeitalter vorzustellen. Sathmar ist nämlich ein Gebiet, das nach dem langen Türkenkrieg und dem Kuruzzenaufstand Franz Rákóczis wieder bevölkert werden musste. Zu dieser Aufgabe schien aus der Sicht der königlichen Verwaltung die mächtigste Familie des Komitats, die Familie Károlyi, geeignet zu sein. Durch das Komitat verliefen wichtige Heerstraßen, was ein Grund dafür war, dass bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Wiederaufbau die wichtigste Aufgabe war. Es ist auch zu bemerken, dass im ganzen Königreich die Pazifikation des Landes, die Demilitarisierung der Gesellschaft, die Verbesserung der Einnahmen, die Wiederbevölkerung der verwüsteten Gebiete und die Integration des Königreichs in die Habsburgermonarchie die größten Herausforderungen bildeten.

Allgemein im ganzen Königreich Ungarn und speziell im Komitat Szatmár herrschten im 18. Jahrhundert äußerst komplexe ethnische und konfessionelle Verhältnisse. Die Mitglieder der Familie Károlyi waren römisch-katholisch, während die übrigen Adeligen und die Städte überwiegend kalvinistisch waren. Das waren nicht die einzigen konfessionellen Grenzen: "Katholische und calvinistische Ungarn lebten in Nachbarschaft zu griechisch-unierten 'Walachen' (Rumänen), während die ungarndeutschen 'Schwaben' auf dem Lande immer katholisch waren" (45).

Es war eine sehr gute Wahl der Autoren, die Geschichte einer Herrschaft am Beispiel dieser Region darzustellen. Das Familienarchiv Károlyi gehört zu den umfangreichsten und besonders gut erhaltenen und erschlossenen Familienarchiven in Ungarn und die Archive des Komitats Szatmár und der Stadt Szatmárnémeti sind sehr reich an wichtigen Quellen. Zur Untersuchung der Klientel in diesem Zeitalter bieten vor allem die Briefwechsel (Korrespondenzen) zwischen den einzelnen Akteuren und die Untersuchungsprotokolle eine gute Basis. In der Einführung werden auch die in der modernen Geschichtsschreibung so intensiv benutzten Begriffe wie Klientelnetzwerke, Klientelstruktur, Bürokratisierung usw. geklärt.

Die Klarheit der Darstellung kann als einer der größten Vorzüge der Einführung (wie auch des gesamten Buches) betrachtet werden. Die komplexen Sachverhalte und Ereignisse werden so beschrieben, dass auch diejenigen sie verstehen, die die Geschichte der Region nicht kennen - und das ist immer eine schwere, aber nicht unlösbare Aufgabe.

In den übrigen Kapiteln findet man die eigentliche Untersuchung zum Thema Herrschaftspraxis und Klientelverhältnisse in der Region Sathmar / Szatmár. Es wird vor allem aus der Sicht der einzelnen Personen (auch Klienten genannt) das Alltagsleben in den Károlyi-Herrschaften gezeigt. Dass es immer Vertrauensleute gab, gibt und geben wird, ist eine Selbstverständlichkeit in der Verwaltungsgeschichte. Aber wie weit diese Klienten im 18. Jahrhundert ihren Einfluss auf den Entscheidungsprozess und auf die alltägliche Verwaltung ausdehnen konnten - gerade diese Frage wird ausführlich geklärt.

Angesichts der großen inhaltlichen Stärken des Buches sollten die folgenden Bemerkungen nicht überbewertet werden: In den Anmerkungen werden die bibliografischen Angaben zur verwendeten Literatur vollständig wiederholt, obwohl diese am Ende des Bandes ausführlich gelistet sind. Um den Umfang des Buches zu mindern, hätte man auf Abkürzungen zurückgreifen können. Obwohl das Buch auf Deutsch geschrieben wurde, hätte es sich gelohnt, ein englisches, ungarisches und rumänisches Resümee zu schreiben.

Was den Rezensenten am meisten beeindruckt, ist die Sicherheit der Autoren. Es ist nicht einfach, aus einem seit Jahrzehnten existierenden Schema auszubrechen. Mithilfe deutscher und amerikanischer soziologischer Untersuchungen gelang es ihnen, zentrale Begriffe wie Modernisierung in Ostmitteleuropa besser zu beleuchten. Bisher wurden traditionell die Struktur und Entwicklung der höfischen Welt näher untersucht, im vorliegenden Buch werden nun die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Grenzländern (gemeint ist: weit vom Hof) gezeigt. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Buch nicht nur zur ungarischen (Herrschafts-)Geschichte einen wertvollen Beitrag bietet, sondern durch die Untersuchung des Klientelwandels unser Wissen über das frühneuzeitliche Europa insgesamt bereichert.

András Oross