Rezension über:

Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart; Bd. 27), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, 331 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-26465-0, EUR 59,95
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Rezension von:
Hans Schafranek
Wien
Empfohlene Zitierweise:
Hans Schafranek: Rezension von: Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/25721.html


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Matthias Gafke: Heydrichs Ostmärker

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Seit Mitte der 1980er Jahre erschütterte eine Reihe von politischen Skandalen die Republik Österreich, welche die "braune Vergangenheit" der Alpenrepublik publizistisch weltweit in den Fokus rückten: etwa der medienwirksame Handschlag zwischen dem amtierenden Verteidigungsminister Frischenschlager und dem aus italienischer Haft zurückgekehrten Kriegsverbrecher Walter Reder oder die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten, der für seine Tätigkeit in der Wehrmacht (Jugoslawien und Griechenland 1942-1944) nur den Terminus "Pflichterfüllung" kannte. Die staatstragende These, Österreich sei das "erste Opfer" der NS-Aggression gewesen, erlitt durch diese massiven Auseinandersetzungen starke Risse, die nie mehr gekittet werden konnten. 1993 räumte Bundeskanzler Vranitzky in Israel eine Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen ein.

Die historische Aufarbeitung dieses Anteils durch die universitäre zeitgeschichtliche Forschung in Österreich hielt mit diesem politischen Paradigmenwechsel nicht Schritt. Von vereinzelten institutionell verankerten Vertretern der "Zunft" abgesehen, wurde und wird die NS-Täterforschung überwiegend von freiberuflichen Historikern, Journalisten oder Forschern außerhalb Österreichs betrieben. Als Beispiel dafür ist auch ein jüngst erschienener Band aus der von Martin Cüppers und Klaus-Michael Mallmann herausgegebenen Reihe "Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart" zu nennen, der von Matthias Gafke, einem Dissertanten Mallmanns, nunmehr vorgelegt wurde.

Aus einer Liste von ursprünglich 1400 Personen filterte Gafke 51 Österreicher heraus, die als RSHA-Funktionäre (vom Referatsleiter aufwärts), Gestapo- oder Kripochefs (inklusive deren Stellvertreter), Inspekteure, Befehlshaber oder Kommandeure der Sicherheitspolizei, Führer von SD-Abschnitten oder mobiler Mordformationen (Einsatzgruppen, Einsatzkommandos) tätig waren. Bei der Typologisierung dieser "Intensivtäter" (Gafke) stellte der Autor eine Reihe von Parallelen, aber auch Unterschieden zu funktional vergleichbaren NS-Tätern aus dem "Altreich" fest. Hinsichtlich ihrer Bildungsabschlüsse übertrafen sie diese noch erheblich: Von den 45 Abiturienten (88%) nahmen alle ein Studium auf, das 39 (überwiegend Juristen) mit der Promotion abschlossen (31f.). Fast die Hälfte hatte vor ihrer Karriere im Deutschen Reich Dienst in der österreichischen Polizei versehen, 94 Prozent des Samples waren "Illegale", die bereits vor 1938 der NSDAP bzw. deren Gliederungen angehörten (265). Rassenantisemitismus und Xenophobie hatten die allermeisten bereits von Kindheit oder Jugend an völlig verinnerlicht - durch das Elternhaus, in deutschvölkischen Turnvereinen und Mittelschul- bzw. studentischen Verbindungen. Als konstituierende Elemente eines besonderen Fanatismus hebt der Autor auch die - in vielen Fällen - topografische Randlage (Grenzlandideologie) ihrer Herkunftsregion und den Verfolgungsdruck seit dem NSDAP-Verbot in Österreich (Juni 1933) hervor.

Das Kernstück der Untersuchung bildet die äußerst materialreiche Darstellung (103-248) der Karrieren von sechs österreichischen Weltanschauungstätern (Humbert Achamer-Pifrader, Rudolf Mildner, Helmut Glaser, Herbert Strickner, Gerhard Bast, Ernst Kaltenbrunner). Obwohl es sich typologisch um eine relativ homogene Gruppe handelt, gelingt es dem Autor, von jedem einzelnen dieser "prominenten", aber (mit Ausnahme Kaltenbrunners) relativ wenig bekannten NS-Täter ein äußerst differenziertes und facettenreiches Bild zu zeichnen, in dem die Darstellung der monströsesten Verbrechen mit der Rekonstruktion familien- und sozialisationsgeschichtlicher Details auf überaus geschickte und überzeugende Weise miteinander verwoben wird. Gafkes souveräner Umgang mit den Quellen und seine darstellerischen Fähigkeiten lassen sich auch daran messen, dass in den 51 Kurzbiografien, die den Anhang bilden (269-309), kaum Wiederholungen erkennbar sind.

Die bemerkenswerten Leistungen der hier besprochenen Studie werden durch einige methodische bzw. terminologische Schwächen beeinträchtigt, die angesichts der immensen Quellenforschung und Sachkenntnis des Autors hätten vermieden werden können. Als Kriterium für die Auswahl der 51 Angehörigen des österreichischen Führungspersonals im SD und der Sipo diente dem Autor ein Geburtsort in der k.u.k.-Monarchie (261). Dagegen wäre überhaupt nichts einzuwenden, wenn die betreffenden Personen nach 1918 österreichische Staatsbürger gewesen, vor dem "Anschluss" Österreichs 1938 in der österreichischen NSDAP bzw. deren Vorfeldorganisationen politisch sozialisiert worden wären oder - zumindest - in der Republik Österreich ihren Lebensmittelpunkt gehabt hätten. Weder das eine noch das andere war jedoch bei acht sudetendeutschen bzw. schlesischen NS-Tätern (Rudolf Fuhrmann, Reiner Gottstein, Erwin Ihrnich, Gustav Jonak, Robert Lehmann, Adolf Puchta, Fritz Rang, Viktor Schmidt), die in das Sample aufgenommen und auch durch Biografien vertreten sind, der Fall.

Es geht nicht an, um nur ein Beispiel herauszugreifen, mit einem deutschböhmischen Nationalsozialisten (Rudolf Fuhrmann), der von Oktober 1919 bis zur Annexion des Sudetenlandes als Berufsoffizier (Major) in der tschechoslowakischen Armee diente (277f.), das österreichische NS-Täter-Kontingent "anzureichern".

Der zweite auffällige Mangel ist mit dem ersten stark verwoben und verschärft ihn tendenziell noch. Der Verfasser geht sehr salopp mit NS-Begriffen um, die er fast durchgängig ohne Anführungszeichen verwendet und auch ansonsten nicht problematisiert. Über eine solche sprachliche Distanzlosigkeit könnte man hinwegsehen, wäre Gafke nicht geradezu verliebt in den Begriff "Ostmärker", der das Buch - ohne Gänsefüßchen - wie ein roter Faden auf fast jeder Seite durchzieht.

Als "Ostmärker" wurden in der NS-Terminologie aber ausschließlich die Bewohner der Republik Österreich bezeichnet, die beim "Anschluss" im März 1938 "heim ins Reich" geholt wurden. Die dem Untersuchungsgegenstand einverleibten Sudentendeutschen werden damit per definitionem wieder exterritorialisiert, ohne dass der Autor ein Wort darüber verliert.

Es wäre indes äußerst unfair, aus dem Umfang dieser kritischen Ausführungen Rückschlüsse auf die Qualität der Studie insgesamt zu ziehen, denn die kritische Erörterung eines komplexen Sachverhalts erfordert im Regelfall einfach mehr Raum als Lob und Anerkennung. Beides hat der Autor in reichlichem Maße verdient. Mit der vorliegenden Untersuchung konnte eine wichtige Lücke in der NS-Täterforschung geschlossen werden, und der komplexe Untersuchungsgegenstand wurde sehr gut aufbereitet. Gafkes materialreiche Studie stützt sich auf unveröffentlichte Quellen aus 22 Archiven in fünf Ländern (Deutschland, Österreich, Tschechien, Slowenien, Lettland), daneben konnte er auch die im Besitz der Angehörigen befindlichen Nachlässe von mehreren Hauptakteuren (Mildner, Pifrader) auswerten. Gafkes Thesen sind überzeugend und schlüssig, der Aufbau und die Gliederung vorbildlich. Zudem ist das Buch in einem sehr guten Stil geschrieben, was beim Erstlingswerk eines jungen Historikers (geb. 1984) durchaus keine Selbstverständlichkeit ist. Gafkes Studie darf wohl für Jahrzehnte hinaus als Standardwerk gelten, dem - auch über die Grenzen der scientific community hinaus - eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Hans Schafranek