Rezension über:

Anne Barnert (Hg.): Filme für die Zukunft. Die Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR, Berlin: Neofelis Verlag 2015, 330 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-95808-012-6, EUR 22,00
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Rezension von:
Andreas Kötzing
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kötzing: Rezension von: Anne Barnert (Hg.): Filme für die Zukunft. Die Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR, Berlin: Neofelis Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/27552.html


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Anne Barnert (Hg.): Filme für die Zukunft

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1973 drehte ein ostdeutsches Kamerateam einen Film an der Berliner Mauer. Zu sehen ist nicht nur das hermetisch abgeriegelte Sperrgebiet, dessen Abbildung nahezu vollständig tabuisiert war. Im weiteren Verlauf des Films dokumentiert das Team die desolaten Wohnverhältnisse einiger Ost-Berliner Bürger, die in heruntergekommenen Altbauten leben. Von einer baldigen Sanierung ist nicht die Rede. Der bemerkenswerte Film mit dem Titel "Berlin - Milieu Ackerstraße" entstand nicht etwa heimlich, sondern offiziell im Auftrag des Staates. Zu sehen war er in der DDR nie, er wurde von vornherein nur für das Archiv produziert.

"Berlin - Milieu Ackerstraße" entstand bei der Staatlichen Filmdokumentation (SFD), einer kleinen Produktionsgruppe, die dem Staatlichen Filmarchiv der DDR unterstellt war und einen expliziten Auftrag verfolgte: die Dokumentation des Lebens in der DDR für spätere Generationen. Zwischen der Gründung der SFD (1971) und ihrer Auflösung (1986) entstanden ca. 300 dokumentarische Produktionen, die in ihrer Gesamtheit eine außergewöhnliche Quelle für die historische Forschung darstellen. Einerseits bieten manche der SFD-Filme einen ungeschönten Einblick in den DDR-Alltag, wie er weder im DDR-Fernsehen noch in den Dokumentarfilmen der DEFA ohne weiteres möglich war. Andererseits vermitteln die Produktionen der SFD ein bestimmtes Selbstbild, das die SED vom eigenen Staat zu zeichnen versuchte und für eine unbestimmte Zukunft konservieren wollte. Diese Ambivalenz macht nicht nur den Reiz der Filme als Quelle aus, sie impliziert zugleich die Herausforderung, sie zu kontextualisieren und ihren Entstehungsprozess ebenso wie ihre filmische Gestaltung zu analysieren.

Die Filmdokumente der SFD, die nach 1990 in die Bestände des Bundesfilmarchivs übergegangen sind, waren lange Zeit nur wenigen Spezialisten bekannt. Auch als Quelle haben sie in der Forschung bislang keine größere Rolle gespielt. Der vorliegende Sammelband von Anne Barnert, der aus einem Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte in Berlin hervorgegangen ist, ist mithin die erste substantielle und umfangreiche Publikation zur Geschichte der SFD. Er dokumentiert nicht nur die Ergebnisse von Barnerts Forschungen, sondern versammelt auch die Vorträge, die im November 2013 auf einem Workshop zur Geschichte der SFD in Berlin gehalten wurden.

In ihrem grundlegenden Überblick schildert Anne Barnert zunächst die historischen Hintergründe der SFD, deren Ursprünge bis weit in die 1960er zurückreichen. Auf breiter Quellenbasis zeichnet sie nicht nur die Geschichte chronologisch nach, sondern strukturiert die Arbeit der SFD auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Dabei unterscheidet sie drei Phasen: die Universale Dokumentation (1972-1977), in der die SFD überwiegend Porträts von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur anfertigte, die Berlin-Totale (1978-1980), in der sich der Fokus der Dokumentationen hauptsächlich auf die Entwicklung der DDR-Hauptstadt konzentrierte, und die Phase Sozialistische Lebensweisen (1981-1985), in der sich das Spektrum der SFD-Filme vergrößerte und die Redakteure zahlreiche Bereiche der gesellschaftlichen Entwicklung in den Blick nahmen. Diese Aufteilung ist nicht trennscharf, da es zwischen den einzelnen Phasen große Überschneidungen gab, als Gliederung erscheint sie dennoch sinnvoll, weil sie zumindest eine grobe Orientierung bietet.

Barnert gelingt ein anschaulicher Überblick über die Produktionen der SFD, weil sie das überlieferte Filmmaterial exemplarisch immer wieder in ihre historische Analyse der schriftlichen Quellen einbezieht. Man gewinnt dadurch einen guten Eindruck davon, was die Besonderheit (zumindest einiger) SFD-Filme ausmacht: Sie fallen nicht durch ihre künstlerische Gestaltung auf, sondern durch die Versuche, Themen aufzugreifen, die ansonsten in der eingeschränkten medialen Öffentlichkeit der DDR ausgespart blieben. Dass durch die SFD überhaupt Tabus berührt werden konnten, war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es seitens der SED nie eine eindeutige Zielstellung für die Staatliche Filmdokumentation gab. Sollte sie tatsächlich die Lücken schließen, die das DDR-Fernsehen und die Dokumentarfilme der DEFA hinterließen? Ging es dabei um ein unvoreingenommenes, wissenschaftlich-systematisches Archivieren von filmischen Bildmaterialien, oder um eine gezielte Dokumentation für spätere Propagandazwecke? Barnert arbeitet heraus, dass gerade diese unklare politische Gemengelage im Umfeld der SFD - ein entsprechender Beschluss durch das Zentralkomitee wurde immer wieder verschleppt - für die Produktionsgruppe Fluch und Segen zugleich war. Einerseits mangelte es stets an materiellen und personellen Ressourcen, andererseits entstanden dadurch erhebliche Freiräume, die die Redakteure sehr wohl auszunutzen wussten.

Barnerts kenntnisreicher Text wird ergänzt durch drei weitere Beiträge. Rolf Aurich zeigt zunächst, dass die Grundidee der SFD - das filmische Dokumentieren ausschließlich für archivalische Zwecke - keineswegs neu war. Ähnliche Versuche gab es bereits in den 1920er Jahren und auch danach immer wieder; für die frühe Phase der SFD und ihre Personenporträts war insbesondere das 1941 begründete "Filmarchiv der Persönlichkeiten" stilprägend. Aurichs Text ist für das Gesamtverständnis wichtig, weil er den Horizont weitet und die SFD aus dem spezifischen DDR-Kontext löst, um sie in einen filmhistorischen Zusammenhang einzuordnen. Matthias Braun fokussiert in seinem Beitrag hingegen stark auf die umfangreichen Zensureingriffe der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit im Bereich von Kunst und Kultur. Man vermisst in dem lesenswerten Aufsatz gleichwohl einen konkreten Bezug zur SFD, zumal die Selbstzensur (als Schere im Kopf) und die politischen Eingriffe durch die verantwortlichen Mitarbeiter der HV Film für die Arbeit der SFD gewiss eine zentrale Rolle spielten. Axel Noack geht in seinem Beitrag schließlich auf einzelne Filmdokumente ein, die sich speziell mit der Rolle der Kirche in der DDR beschäftigten - auch dies eines der politisch umstrittenen Themenfelder. Dazu gehörten Filme wie das Porträt über den Keramik-Künstler Christian Richter (1983), der als überzeugter Christ und Friedensaktivist im Film u.a. über seine pazifistische Grundeinstellung und die Verweigerung des Wehrdienstes spricht. Derartige Tabubrüche trugen dazu bei, dass der Rückhalt für die SFD Mitte der 1980er Jahre zunehmend schwand und die Gruppe schließlich aufgelöst wurde. Selbst als Produktionen fürs Archiv waren die SFD-Filme nicht mehr erwünscht.

Neben Forschern kommen Zeitzeugen mit persönlichen Erinnerungen zu Wort, darunter Wolfgang Klaue, der als langjähriger Leiter des Staatlichen Filmarchivs für die SFD zuständig war. In einem Interview äußert sich zudem Thomas Heise zu seiner Tätigkeit bei der SFD. Heise, der heute zu den bekanntesten und wichtigsten deutschen Dokumentarfilmregisseuren zählt, realisierte 1984 bzw. 1985 als freiberuflicher Redakteur zwei bemerkenswerte Dokumentationen für die SFD, einen Film über die Arbeit in verschiedenen SED-Bezirksämtern, u.a. die zentrale Wohnraumlenkung ("Das Haus"), und einen über die Arbeit in einem Berliner Polizeirevier ("Volkspolizei") - dies sind bislang auch die beiden einzigen auf DVD erschienenen Produktionen der SFD. Weitere Veröffentlichungen wären in jedem Fall wünschenswert, um den Bestand einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bislang können die Filme - soweit es der Archivierungszustand zulässt - ausschließlich vor Ort im Bundesfilmarchiv gesichtet werden.

Der Sammelband erhebt nicht den Anspruch, eine abschließende oder gar vollständige Analyse der Geschichte der SFD vorzulegen. Die Beiträge regen vielmehr dazu an, das erhalten gebliebene Bildmaterial weiter zu erschließen und - je nach thematischen Schwerpunkten - mit in laufende Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte einzubeziehen. Die im Anhang des Buches veröffentlichte, chronologisch sortierte Übersicht über alle Filmdokumente der SFD bietet dafür einen idealen Zugang. Die Liste enthält zwar keine detaillierten Inhaltsangaben, aber schon allein anhand der Titel lassen sich viele Personen und Themen erschließen, zu denen Material vorliegt. Für die weitere wissenschaftliche Untersuchung der SFD bietet der Band damit eine hervorragende Grundlage.

Andreas Kötzing