Rezension über:

Stephanie Geissler: Wem gehört die Stadt? Umweltkonflikte im städtischen Raum zur Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung in Aachen und Duisburg, Münster: Waxmann 2016, 246 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-3390-8, EUR 39,90
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Rezension von:
Michael Wettengel
Stadtarchiv Ulm / Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Michael Wettengel: Rezension von: Stephanie Geissler: Wem gehört die Stadt? Umweltkonflikte im städtischen Raum zur Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung in Aachen und Duisburg, Münster: Waxmann 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/28621.html


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Stephanie Geissler: Wem gehört die Stadt?

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Städte bildeten den Entstehungsort von Umweltkonflikten. Aufgrund der dichten Besiedlung kam es durch die gewerblich-industrielle Nutzung von natürlichen Ressourcen in städtischen Zentren besonders früh zu konfliktträchtigen Gemengelagen kontroverser Interessen. Zwar wurde der Umweltbegriff im heutigen Sinne erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt, doch bereits in frühindustrieller Zeit bestand ein Bewusstsein für die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft durch Gewerbebetriebe und Fabrikanlagen.

In ihrer Doktorarbeit mit dem etwas missverständlichen Titel "Wem gehört die Stadt?" befasst sich die Autorin mit der Wahrnehmung und Bewertung historischer 'Umweltprobleme' im urbanen Raum am Beispiel der relativ früh industrialisierten Städte Aachen und Duisburg, wobei insbesondere Konflikte um die Auswirkungen von Industrieansiedlungen im Mittelpunkt stehen. Grundlegend in der umwelthistorischen Forschung waren hier bislang vor allem die Arbeiten von Ulrike Gillhaus, Franz Josef Brüggemeier und Frank Uekötter, die allerdings, wie die Verfasserin feststellt, zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. [1] Anhand der Auswertung zahlreicher 'Umweltkonflikte' und Proteste gegen die Ansiedlung von Industrie- und Gewerbeunternehmen in Aachen und Duisburg überprüft die Verfasserin die bisherigen Thesen und gelangt zu neuen Erkenntnissen. Sie verknüpft stadt- und umweltgeschichtliche Ansätze und analysiert systematisch die Wahrnehmung städtischer Einwohner zwischen 1815 und 1914. Dabei greift sie nicht einzelne lokale Konflikte heraus, sondern untersucht die "breite Palette von Konflikten, Meinungsäußerungen und Bewertungen innerhalb systematischer Kategorien" (15) am konkreten Beispiel zweier Städte. Im Zentrum steht somit die Perspektive der Stadtbewohner, deren subjektive Wahrnehmungen und Bewertungen, Erfahrungen und Empfindungen. Als Parameter zur Analyse von Umweltveränderungen werden dabei Ökonomie, Gesundheit und Lebensqualität gewählt. Gefragt wird, welche ökonomischen Konflikte entstanden, welche Rolle die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hatten und wie Beeinträchtigungen des "angenehmen Lebens" (38) der Betroffenen gewertet wurden.

Neben den betroffenen Stadtbewohnern nimmt die Verfasserin auch die Positionen der "ökonomischen Interessengruppen" (67) sowie der kommunalen Gremien und Verwaltungen in den Blick. Gerade die Rolle der Stadtverwaltungen war vielfältig. Sie konnten beispielsweise als Entscheidungsträger und als Berater auftreten, waren aber durch den Besitz von kommunalen Unternehmen auch Verursacherinnen von Umweltbelastungen. Sie besaßen einerseits enge Verbindungen zur örtlichen Wirtschaft, andererseits waren sie in ihrer Verantwortung für die Stadt von Umweltschäden massiv betroffen, etwa in Fragen der städtischen Hygiene, durch die Folgen für den Grundstücks- und Immobilienmarkt sowie in ihrem Bemühen um die Attraktivität der Stadt insgesamt. Auch der Staat war ein wichtiger Akteur, beispielsweise durch rechtliche Regelungen oder Gutachten der staatlichen Forschung.

Die Verfasserin betont im Gegensatz zu früheren Arbeiten die pragmatische Zielsetzung der Proteste. Diese nahm offenbar sogar noch zu: Während in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die "gesamtgesellschaftlichen Aspekte der lokalen, individuellen Ressourcenkonflikte" berücksichtigt worden seien (66), hätten diese am Ende des Jahrhunderts keine Rolle mehr gespielt. Um 1900 hätten sich die städtischen Einwohner bei der Wahrnehmung und Bewertung von ökonomisch motivierten Umweltkonflikten stattdessen auf die Betonung ihrer individuellen Einbußen und Verluste beschränkt. Nirgendwo seien bei den Klagen generelle zivilisationskritische oder technikfeindliche Argumente nachweisbar gewesen. Auch die Industrialisierung sei nicht grundsätzlich hinterfragt worden. In ihren Klagen forderten die Stadtbewohner in der Regel die Wahrung der privaten und öffentlichen Gesundheit, die Sicherung des Eigentums vor Beeinträchtigungen und die Gewährleistung der eigenen wirtschaftlichen Entfaltung. Als zentrale Motivation für die Beschwerden erwies sich außerdem der "drohende Verlust individueller Lebensqualität" (179), wozu auch ein schönes "städtisches Erscheinungsbild" (182) gehörte. Vor allem Luftverunreinigungen standen im Mittelpunkt der Beschwerden, während beispielsweise Wasserverschmutzungen deutlich weniger repräsentiert waren. Insgesamt zeigten die Beschwerdeführer bereits in der Frühindustrialisierung eine "überraschende Vertrautheit mit den technischen Aspekten, die mögliche Umweltbelastungen verursachen konnten" (224). Auf das von der Wissenschaft entwickelte Lösungsmodell der "Grenzwerte" rekurrierten die Stadtbewohner kaum und beharrten auf der persönlichen Erfahrbarkeit von Emissionen. Als Lösung erwiesen sich vor allem stadtplanerische Segregationsprozesse, eine Trennung in Wohn- und Gewerbegebiete, technische Maßnahmen sowie der Bau höherer Schornsteine. Ziel der Beschwerdeführer war somit die Verlagerung subjektiv empfundener Belästigungen aus dem direkten Umfeld. Die Verfasserin kommt zum Schluss, dass die klagenden Stadtbewohner somit durchaus Erfolg hatten, indem die Emissionen im unmittelbaren Erfahrungsraum reduziert wurden, obgleich die Umweltbelastung dadurch nicht verringert werden konnte.

Leider bedingt der Aufbau der Arbeit viele Wiederholungen und erläuternde Ausführungen, wodurch es gelegentlich schwer ist, dem Argumentationsstrang zu folgen. Doch wer sich der Mühe der Lektüre unterzieht, wird reich belohnt. Das empirisch gesättigte, wichtige Werk vermittelt gut fundierte Einsichten in Umweltkonflikte in der Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung und in das Verhältnis von Wahrnehmung und Protest. Es ist zu hoffen, dass weitere ähnliche Forschungen zur Stadt- und Umweltgeschichte folgen werden. Die Erkenntnis aus dieser Arbeit, wie wichtig individuelle ästhetische Ansprüche, das subjektive Empfinden von Beeinträchtigungen und der Wunsch nach urbaner Lebensqualität bei den Umweltkonflikten waren, sollte dabei festgehalten werden.


Anmerkung:

[1] Ulrike Gilhaus: "Schmerzenskinder der Industrie". Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845-1914, Paderborn 1995; Franz-Josef Brüggemeier: Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert, Essen 1996; Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880-1970, Essen 2003.

Michael Wettengel