Rezension über:

Guenther Roth / John Röhl (Hgg.): Aus dem großen Hauptquartier. Kurt Rietzlers Briefe an Käthe Liebermann 1914-15 (= Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 15), Wiesbaden: Harrassowitz 2016, VIII + 299 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10596-5, EUR 49,00
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Guenther Roth / John Röhl (Hgg.): Aus dem großen Hauptquartier. Kurt Rietzlers Briefe an Käthe Liebermann 1914-15, Wiesbaden: Harrassowitz 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28977.html


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Guenther Roth / John Röhl (Hgg.): Aus dem großen Hauptquartier

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Die Herausgeber der erst 2008 aufgefundenen Briefe Kurt Riezlers an seine Braut Käthe Liebermann - sie war die Tochter des berühmten Malers Max Liebermann - kündigen mit großen Worten an: "Dieser absolut authentischen Quelle aus der engsten Umgebung Bethmann Hollwegs kommt eine eminente Bedeutung zu." Und: "Für diese Dokumente hätte mancher junge Historiker vor einigen Jahrzehnten alles gegeben" (Die Zeit, 27.4.2015). Die Erwartungen waren also hoch gesteckt: Kann womöglich die These Fritz Fischers, dass das Deutsche Reich der Hauptschuldige am Kriegsausbruch 1914 gewesen sei, nun mit neuen Quellen erhärtet werden? Zentral waren für die Thesen Fischers - mangels anderer Quellen - die Kriegstagebücher Riezlers, insbesondere die 19 losen Blockblätter zur Julikrise 1914. Sie hatten jedoch den bekannten quellenkritischen Nachteil, in zeitlichem Abstand zu den Ereignissen im Juli 1914 niedergeschrieben worden zu sein. Nun die Neuentdeckung der Brautbriefe Riezlers! Ohne irgendeinen zeitlichen Abstand enthalten sie - unter vielem anderen - auch tagespolitische Aussagen.

Die Herausgeber sind genau da in ihrer Diktion sehr vorsichtig: "Bei der Beantwortung dieser Frage spielen seit einem halben Jahrhundert die umstrittenen Tagebücher Riezlers eine entscheidende Rolle, die nun durch die einhundert Brautbriefe des jungen Bethmann-Vertrauten ergänzt werden können." (Schluss-Satz der "Historischen Einleitung" mit dem Titel "Der Drang zum Krieg") Aber was soll das Wort "ergänzen" bedeuten? "Ergänzen" ist in seiner Aussagekraft jedenfalls schwächer als "bestätigen". Und was meint Röhl mit "Drang zum Krieg"? Beide Begriffe werden nicht weiter expliziert - aber genau da wüsste ein jeder Historiker gerne mehr zum Bedeutungsumfang dieser Begriffe. Beide sind merkwürdig unbestimmt, trotz der zentralen Bedeutung, und das vermutlich mit Absicht. Denn die These Fischers lässt sich nicht mit den Brautbriefen in einer strengen Bedeutung "bestätigen" - allein schon deshalb: Sie entstehen eben nicht während der so entscheidenden Julikrise, sondern Riezler schreibt sie vom Hauptquartier an der Front - also auch post festum - und damit haben wir ein ähnliches Problem wie bei den losen Blockblättern. Man würde sich wünschen, dass dies die Herausgeber auch ausgesprochen hätten.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Brautbriefe nur "ergänzen". Es sind eben Brautbriefe. Briefe eines jung Verliebten von der Front an seine Braut. Und so nimmt politisch Brisantes häufig nur einen kleinen Raum ein. Das Private dominiert naturgemäß. Damit reihen sich die Briefe Riezlers auch in die Fülle von Briefen von Soldaten aller Nationen von der Front ein. Bei dieser Quellengattung gibt es viele strukturelle Ähnlichkeiten. Diese Kontextualisierung nehmen die Herausgeber jedoch nicht vor, obwohl mehr als ein Drittel des Buches aus einleitenden und kommentierenden Aufsätzen besteht. Aus kriegsalltags- und mentalitätsgeschichtlichen Gründen wäre es reizvoll festzustellen, dass auch ein Riezler viele ähnliche Erfahrungen macht wie viele andere, die sich nicht im Hauptquartier aufhalten.

Röhls "Historische Einleitung" verfolgt primär das Ziel, die Thesen Fritz Fischers zu "ergänzen": Hierzu dann der sehr eindeutige, einhämmernd lange Schlusssatz des Kapitels "Vorsätzlicher Krieg oder hilflos hineingeschlittert? Der verlorene Konsens", der aus Platzgründen hier nur verkürzt zitiert sein soll: "Der Erste Weltkrieg [...] wurde bewusst herbeigeführt nach einem langen Entscheidungsprozess, an dem alle Machtinstanzen in Berlin [...] beteiligt waren" (39). "Bewusst herbeigeführt" kann jedoch zweierlei bedeuten: Einmal 'mit vollem Wissen', dass die Krise zum Krieg führen kann. Das wäre gegen Clarkes "Schlafwandler" gerichtet. Dann aber auch 'mit voller Absicht', d.h. zielgerichtet den Krieg anzetteln im Sinne von Fischer. Röhl meint vermutlich beides. Auch hier würde man sich eine größere Deutlichkeit wünschen.

Die begrifflichen Unschärfen sprechen zumindest dafür: So eineindeutig erneuern die Herausgeber nicht die Thesen Fischers und die Brautbriefe Riezlers schaffen keine neuen Gewissheiten zur Kriegsschuldfrage. Die Brautbriefe in die Kontroversen um die deutsche Kriegsschuld zu positionieren ist das Hauptanliegen der einleitenden Aufsätze. Gleichwohl enthalten die Briefe so manch anderes brisantes Detail, das von den Herausgebern nicht gewürdigt wird. Hier nur ein Beispiel: Riezler thematisiert mehrmals nach der Schlacht von Tannenberg einen Separatfrieden mit Russland "sur le dos d' Autriche" (auf dem Rücken von Österreich, MH, 20.9.1914, (155) und 9.1.1915 (244)). Nibelungentreue zu Österreich war im Umfeld des Kanzlers offenbar nicht das einzige Denkbare.

Die einleitenden Aufsätze behandeln ferner die Entdeckungsgeschichte der Briefe, dann Milieuschilderungen zum jüdischen Großbürgertum in Berlin, dem die Liebermanns angehörten. Themen sind auch die spätere Verfolgungs- und Emigrationsgeschichte Riezlers und seiner jüdischen Frau. Ausführungen zu den in den Briefen angesprochenen militärpolitischen Aspekten des Krieges finden sich ebenso. Der Edition angehängt sind sechs bemerkenswerte Briefe Riezlers aus Moskau vom April / Mai 1918. Riezler war Botschaftsrat der Deutschen Gesandtschaft. Die Briefe enthalten mitunter sehr bunte - auch unerwartet überraschende Details aus dem Leben im revolutionären Moskau 1918, z.B. dass trotz aller Wirren immer noch Ballett und Oper funktionierte und die Bolschewiki die Aufführungen in Lederjoppen in den Logen der Großfürsten genossen. Und dort: "kein einziges elegantes Kleid" (280).

Ausdrücklich hervorgehoben sei: Die Briefe sind mustergültig, mit großer Akribie kommentiert. Viele einordnende Informationen mussten mühsam recherchiert werden. Die Briefedition lässt als Edition keinerlei Wünsche offen. In den Aufsätzen werden die Briefe hauptsächlich zur Kriegsschuldfrage in Beziehung gesetzt. Sie "ergänzen" nur schon vorhandenes Wissen. Sie enthalten keine grundsätzlich neuen Aspekte und grundsätzliche Neubewertungen zur Kriegsschuldfrage können nicht vorgenommen werden. Sie bieten darüber hinaus eine Fülle von Material zu vielen anderen Forschungsfragen.

Manfred Hanisch