Rezension über:

Walter Manoschek: "Dann bin ich ja ein Mörder!". Adolf Storms und das Massaker an Juden in Deutsch Schützen, Göttingen: Wallstein 2015, 219 S., eine DVD, ISBN 978-3-8353-1650-8, EUR 24,90
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Rezension von:
Hans Schafranek
Wien
Empfohlene Zitierweise:
Hans Schafranek: Rezension von: Walter Manoschek: "Dann bin ich ja ein Mörder!". Adolf Storms und das Massaker an Juden in Deutsch Schützen, Göttingen: Wallstein 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/11/27818.html


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Walter Manoschek: "Dann bin ich ja ein Mörder!"

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In seinem jüngsten Buch beschäftigt sich der Wiener Politikwissenschaftler und Historiker Walter Manoschek mit einem der vielen Massaker, die in den letzten Kriegswochen bei Evakuierungsmärschen an jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern in der "Ostmark" begangen wurden.

Beim Heranrücken der russischen Front erschossen am 29. März 1945 im kleinen burgenländischen Ort Deutsch Schützen drei versprengte Angehörige der Waffen-SS-Division "Wiking" mindestens 57 beim Bau des Südostwalls eingesetzte jüdische Zwangsarbeiter - ohne Befehl bzw. entgegen den direkten Weisungen des lokal zuständigen NSDAP-Kreisleiters, der eine "geordnete" Evakuierung vorsah. Einer der mutmaßlichen Täter (der aus dem Ruhrgebiet stammende Adolf Storms) wurde von Walter Manoschek 2008 in Duisburg aufgespürt und war, zur Überraschung des Forschers, zu mehreren Interviews vor laufender Kamera bereit.

Der Autor nimmt eine Reihe von Fragestellungen in den Fokus, die den allgemeineren Rahmen für die Rekonstruktion des konkreten Mordgeschehens wie auch den justiziellen Umgang nach 1945 abstecken. Er skizziert u.a. die Einsätze der SS-Division "Wiking", die antisemitischen Maßnahmen in Ungarn 1944, die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter beim Bau des Südostwalls, die Todesmärsche dieser Zwangsarbeiter auf österreichischem Territorium usw. Weiters werden mehrere nach 1945 durchgeführte Prozesse gegen gleichfalls beteiligte HJ-Führer - alles andere denn ein Ruhmesblatt für die österreichische Justiz - ausführlich dargestellt, ebenso das Auffinden des Massengrabes (1995).

Neben der überaus gelungenen Einbettung in den übergeordneten politischen und historischen Kontext ist vor allem die von Manoschek praktizierte Interviewmethode hervorzuheben. Einige Dutzend Seiten aus den Transkripten der 15-stündigen Interviews haben Eingang in das Buch gefunden und dokumentieren die minutiöse, zeitweilig auf Stunden bezogene Rekonstruktion jener Ereignisse des 29. März 1945. Es war Manoschek klar, dass er mit dem mutmaßlichen Massenmörder "eine Art von Arbeitsverhältnis" (164) aufbauen musste, und jeder falsche Satz eine Abwehrreaktion hervorrufen und das Ende der Gesprächsbereitschaft bedeuten konnte. Den abgedruckten Passagen ist deutlich anzumerken, dass dem Interviewer bewusst war, dass er sich in diesem Gespräch wie in einem permanenten Drahtseilakt bewegte. Das Ausbalancieren zwischen Nähe und Distanz stellt in diesem Fall fast eine Kunstform dar. Manoscheks Fragen und Kommentare sind mitunter fordernd und eindringlich, ohne penetrant zu wirken. Sie zeugen am anderen Ende der Skala von einer gewissen Empathie, ohne jemals den Eindruck von Anbiederung zu erwecken. Dies zeigt etwa bereits der Einstieg, bei dem es um die Motivation Storms zum Eintritt in die Waffen-SS geht. Trotz eines Gehörschadens gab er 1941 eine ruhige Position bei der Reichsbahn auf und meldete sich freiwillig zur SS. Bei einem weniger professionellen Interviewer wäre allein schon diese Fragestellung in einen ideologisch überfrachteten Rechtfertigungsdiskurs eingemündet. Nicht so im vorliegenden Buch. Autor: "Sie waren bei der Waffen-SS?" Storms: "[...] Es war doch Krieg. Und ich war ein junger Kerl und musste sonntags und samstags da sitzen am Fahrkartenschalter, am Bahnhof in Beeck [...] und musste Fahrkarten ausgeben." Autor: "Das kann ein Achtzigjähriger auch." Storms: "Da kommen dann die Frauen. Die Männer waren alle im Krieg und da sitzt ein junger Kerl. Da wird man angemeckert. Die jungen Kerle sitzen hier. Unsere Männer sind Soldaten." (159)

Im Laufe eines langen, zur Gänze abgedruckten Telefonats machte Storms ein "verstecktes, indirektes Geständnis" (171), als er mit den Aussagen von anderen Tatbeteiligten konfrontiert wurde, um sich in der Folge wieder auf seine Gedächtnislücken zurückzuziehen, deren mögliche Ursachen und selektiven Charakter Manoschek ausführlich analysiert (195-199). Nach dem Abschluss der Recherchen übergab der Autor das gesammelte Material der Staatsanwaltschaft Dortmund, die im Oktober 2009 Anklage gegen Storms wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes in 57 Fällen erhob. Zu einer Hauptverhandlung kam es nicht mehr, da der Beschuldigte im Juni 2010 im Alter von 91 Jahren verstarb.

Das Buch von Walter Manoschek, der parallel dazu einen bei der Viennale 2012 präsentierten Dokumentarfilm produzierte, stellt einen überaus wichtigen Beitrag zur NS-Täterforschung dar. Es zeigt vor allem sehr deutlich, was die methodisch gelungene Verschränkung von "klassischen" Archivquellen und forschungsproduzierten Quellen (Oral History) im besten Fall zu leisten vermag.

Hans Schafranek