Rezension über:

Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 15), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2016, 205 S., ISBN 978-3-643-13402-8, EUR 29,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Helmut Meyer
Deutschschweizerische Gesellschaft für Geschichtsdidaktik
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Helmut Meyer: Rezension von: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/29117.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Aus der Geschichte lernen?

Textgröße: A A A

Ausgelöst durch den "PISA-Schock" (2000) wird in der Geschichtsdidaktik seit Jahrhundertbeginn diskutiert, ob im Geschichtsunterricht anstatt oder neben Wissen "Kompetenzen" vermittelt werden müssten und um was für Kompetenzen es dabei gehe. In der Folge wurden verschiedene, miteinander konkurrierende Kompetenzmodelle entwickelt. [1] Der vorliegende Band signalisiert gewissermaßen einen Marschhalt mit der Frage: "Wo stehen wir?". Er enthält elf Referate, welche 2013/14 im Rahmen des Historisch-Didaktischen Kolloquiums des Instituts für Didaktik der Geschichte an der Universität Münster gehalten wurden. Hinzu kommen ein Vortrag des 2012 verstorbenen Karl-Ernst Jeismann aus dem Jahr 2011 und die Einleitung der Herausgeberin Saskia Handro und des Herausgebers Bernd Schönemann.

Vier Beiträge (Marko Demantowsky, Holger Thünemann, Bernd Schönemann, Kristina Lange) sowie die Einleitung befassen sich überwiegend mit dem Stand der seit zwanzig Jahren wogenden Kompetenzdiskussion. Die Stimmung ist eher gedämpft: "Derzeit konkurrieren in der Geschichtsdidaktik unterschiedliche Kompetenzmodelle, die [...] nicht bruchlos ineinander zu übersetzen sind" (2). "Das Verhältnis von Wissen und Kompetenzen ist unzureichend geklärt" (3). "Ein einheitliches disziplinweit anerkanntes Kompetenzmodell ist nicht in Sicht" und die vorhandenen sind alle "überwiegend in den praxisfernen Höhen der Theoriebildung verblieben", hält Schönemann fest (83). Es ist nicht zu übersehen, "dass die geschichtsdidaktische Kompetenzdebatte in einer tiefen Krise steckt", folgert Thünemann (37) daraus. Die Gründe dafür sieht dieser darin, dass die Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker ihre jeweiligen Modelle für absolut erklärten, die Bildungsadministratoren den Lehrplänen einfach ein Kompetenzetikett anhängten und die Lehrerinnen und Lehrer den Höhenflügen universitärer Geschichtsdidaktik eher kritisch gegenüber stünden.

Kristina Lange tritt für das kompetenzorientierte Unterrichten ein, obwohl die vorliegenden "Kompetenzmodelle [...] bisher noch nicht empirisch validiert" wurden (126) und "innerhalb der Geschichtsdidaktik bisher noch keine systematisierenden Darstellungen vorliegen, die kompetenzorientierte Unterrichtsskripte beschreiben" (129). Demantowsky postuliert, man müsse in Zukunft auch die Unterrichtsinhalte, die "materialen Bestimmungsgründe guten Geschichtsunterrichts diskutieren" (34), auch wenn dies quer "zu einem konsequent konstruktivistischen Verständnis der geschichtsdidaktischen Kompetenzorientierung liege" (21). Sonst überlasse man diese einfach Politikerinnen und Politikern, den Lehrerverbänden oder gar den "Rattenfängern der schlichten Nationalmythologie" (35).

In fünf Beiträgen geht es um den "Ist-Zustand", welchen die Autorinnen und Autoren aufgrund von schriftlichen Arbeiten verschiedenster Art sowie Interviews erhoben haben. Hilke Günther-Arndt befasst sich mit den Aspekten des außerschulischen themenspezifischen Vorwissens und der Geschichtsvorstellungen der Schüler, an welche der Unterricht anknüpfen sollte. Die von ihr untersuchten Schülerinnen und Schüler befanden sich allerdings meist schon im neunten Schuljahr, sodass in ihre Darstellungen möglicherweise nicht nur "alltagsweltliches", sondern auch schulisches Wissen einfloss. Christoph Kühberger ließ Schülerinnen und Schüler der siebten Klasse einen Ausschnitt des Films "1492 - die Entdeckung des Paradieses" ansehen und darüber Essays schreiben, um zu erkennen, ob und wie diese zwischen "Vergangenheit" und "Geschichte" unterscheiden könnten. Von den 260 Arbeiten konnte er allerdings nur 115 auswerten, weil die übrigen keine "erkennbaren Reflexionsmuster" erkennen ließen (144). Die 115 wurden dem "agnostisch-skeptizistischen", dem "positivistisch-historistischen", dem "konstruktivistischen", dem "darstellungskritischen" oder dem "naiv-faktizitätsorientierten" Typus zugeteilt.

Geschichtsdidaktische Erwartungshaltungen und reale Unterrichtsergebnisse liegen oft weit auseinander. Manuel Köster legte Schülerinnen und Schülern der zehnten Klasse zwei Texte über den Holocaust vor, von denen der eine die Schuld allein Hitler und seinen engsten Mitarbeitern zuwies, der andere (Goldhagen) dem ganzen deutschen Volk. Die Schülerinnen und Schüler griffen aus den Texten einfach heraus, was ihre "Wir-Identität" bestätigte, und gaben meist der ersten Darstellung den Vorzug. Geht man von der Forderung der Kompetenzmodelle aus, dass die Schülerinnen und Schüler fähig sein sollten, sich durch Textanalyse der Problematik ihres Vorwissens und ihrer Vorurteile bewusst zu werden, muss man nach Köster zum Schluss kommen: "Ein derartiges Maß an Reflexivität wies keiner der beteiligten Schüler dieser Studie auf" (184). Jan Hodel stellt fest, dass sich beim Arbeiten mit digitalen Medien "kaum Ansätze eines entdeckenden Lernens beobachten" (161) lassen: "Sie [die Lernenden] nutzen die digitalen Netzmedien wie ein großes Schulbuch, das ihnen die fertigen Deutungen gebrauchsfertig liefert" (162).

In einer größeren Untersuchung Schönemanns [2] ging es "um die empirische Analyse von Differenzen und Diskrepanzen zwischen den Wunschvorstellungen der Konstrukteure von Kompetenzmodellen und Bildungsstandards einerseits und der Wirklichkeit tatsächlich erbrachter Schülerleistungen am Ende der Schullaufbahn andererseits" (79). Er fasst das Ergebnis dieser Untersuchung über Abiturientenarbeiten zusammen - darunter sowohl als sehr gut wie als schlecht benotete - und kommt zu einem vernichtenden Resultat: "Die Analyse des Klausurenkorpus hat ergeben, dass offensichtlich ein hohes Maß an terminologischer Verwirrung vorherrscht [...]. Alles in allem ist die grundlegende Differenz zwischen Quelle und Darstellung den Prüflingen offenbar kaum bewusst" (86). Die wenigsten Schülerinnen und Schüler sind fähig, Quellen und Darstellungen in übergreifende Sach- und Sinnzusammenhänge einzuordnen: "Beispiele für gelungene Kontextualisierungen haben [...] Seltenheitswert" (87). Summa summarum: "Insgesamt sind die Reflexionsleistungen der Prüflinge eindeutig als defizitär einzuschätzen" (89). Zu einem ebenso kritischen Urteil kommt Ludger Schröer über angehende Lehrpersonen. Er untersuchte die Arbeitsaufträge, welche Referendarinnen und Referendare im Unterricht erteilten und stellte fest: "Das 'Fragen an die Geschichte' wird von den meisten als Nachvollzug nicht in Frage gestellter Entitäten" aufgefasst (117), was auch nicht verwunderlich sei, denn "die meisten Referendare haben auf die Frage nach dem Sinn und der Funktion von Geschichte keine klare, bewusst wissenschaftlich verankerte und argumentativ runde Position" (119).

Unter diesen Umständen wird der geistreich vorgetragene Vorschlag von Bodo von Borries, mit den Schülerinnen und Schülern die historische Analyse fiktionaler Literatur (Cooper, Der letzte Mohikaner) oder den Umgang mit nicht unbedingt tendenzfreien Sachbüchern (Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums) einzuüben, wohl nicht in vielen Schulklassen umgesetzt werden. Eher gilt dies für die Anregung von Olaf Hartung, der zeigt, wie Schülerinnen und Schüler einer sechsten Klasse auf anschauliche Weise - Auswertung der Grabungsbefunde auf der Saalburg - in die verschiedenen Gattungsformen von Quellen und Darstellungen eingeführt werden können. Einen sehr instruktiven Überblick über die Entwicklung von Geschichtsbildern und didaktischen Konzepten bietet Karl-Ernst Jeismann, der ohne die überladene Fachterminologie einiger anderer Beiträge auskommt. Einen nützlichen Einblick in die Entwicklung der Geschichtsdidaktik in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg enthalten auch die Beiträge von Demantowsky und Schönemann. Aus ihnen wird ersichtlich, dass vieles von dem, was in den Kompetenzmodellen als Neuheit angepriesen wird, bereits in den Curriculumdiskussionen der Sechziger- und Siebzigerjahre entwickelt wurde, wenn auch mit einer anderen Terminologie.

Im Ganzen zeigt der Band: Die Kluft zwischen den Publikationen und Diskussionen der akademischen Geschichtsdidaktik und dem alltäglichen Geschehen in der Schule ist offensichtlich groß. Sie könnte vielleicht kleiner werden, wenn in solchen Vortragsreihen auch Praktikerinnen und Praktiker zum Zug kämen.


Anmerkungen:

[1] Die meisten Autoren stützten sich dabei auf die Definition von "Kompetenzen" bei Eckhardt Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, Berlin 2003, 15-16. Die umfassendste Übersicht zum Thema bieten Andreas Körber / Waltraud Schreiber (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens, ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuwied 2007.

[2] Bernd Schönemann / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten?: Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte, Berlin 2010.

Helmut Meyer