Rezension über:

Anja Siegemund (Hg.): Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel. Kulturtransfers, Lebenswelten, Identitäten – Beispiele aus Haifa (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Bd. 11), Berlin: Neofelis Verlag 2016, 514 S., Zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-95808-027-0, EUR 39,00
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Rezension von:
Moshe Zimmermann
The Hebrew University of Jerusalem
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Moshe Zimmermann: Rezension von: Anja Siegemund (Hg.): Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel. Kulturtransfers, Lebenswelten, Identitäten – Beispiele aus Haifa, Berlin: Neofelis Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/28987.html


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Anja Siegemund (Hg.): Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel

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An Literatur über die sogenannten "Jeckes", die nach Palästina ausgewanderten Juden aus Deutschland, mangelt es nicht, weder auf Deutsch noch auf Hebräisch. Die Landsmannschaft der "Jeckes" war von Beginn an bemüht, ihre Geschichte zu erzählen und sich gegenüber den anderen Israelis zu rechtfertigen, da sie abgeblich, anders als die anderen Olim (Einwanderer), "aus Deutschland, nicht aus Zionismus" nach Palästina-Erez-Israel ausgewandert waren. Mehr noch: Die "Jeckes" betonten in ihrer Selbstdarstellung, auf eine Art die zwischen Stolz und Apologie lag, ständig ihren "Beitrag" zur israelischen-zionistischen Gesellschaft.

Anja Siegemund plädiert in dem vorliegenden Sammelband für ein "vielfarbiges Mosaik", das die Klischees und die Apologie ersetzen soll. Es geht also um einen frischeren Zugang zum Thema "Jeckes" in Israel - nicht "der Beitrag" und nicht die Apologie stehen im Mittelpunkt, sondern die Phänomene Kulturtransfer und Transkulturalität (25). Die Hafenstadt Haifa wurde hierzu als "Test-case" gewählt, nicht zuletzt weil die etwa 9000 "Jeckes" in dieser Stadt kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung ausmachten, während es in der anderen Großstadt Palästinas, Tel Aviv, bei 13000 "Jeckes" weniger als ein Zehntel der Stadtbevölkerung war (28).

Nach der wissenschaftlichen Einführung in das Thema (Anja Siegemund) und dem Abschnitt "Annäherungen. Die Jeckes und Haifa" (Joachim Schlör, Ines Sonder) befasst sich der zweite Teil des Bandes mit dem Bereich "Akkulturationen, Kulturtransfers, Kulturkämpfe", der dritte Teil mit "Menschen, Familien, Generationen" und der vierte und letzte Teil mit "Gedächtnisse, Tradierungen, Hinterlassenschaften". Insgesamt nahmen 26 Autoren mit 30 Beiträgen am Band teil.

Das Bild-Material, vor allem viele Fotos aus Privatbesitz, vermittelt wichtige Informationen im Sinne des "visual turn" der gegenwärtigen Historiographie.

Die Bandbreite der Themen reicht vom "Traum von Haifa als Gartenstadt" (Ines Sonder) und "Deutsche Bauten in Haifa" (Ita Heinze-Greenberg), über "Kupferhäuser in Haifa" (Friedrich von Borries/Jens-Uwe Fischer) und "Internationale Netzwerke und deutsche Wissenschaftskultur" (Christiane Reves) bis hin zur "Sprachsituation und Akkulturation der Einwanderer" (Anne Betten) oder "Jeckisches Theater auf Hebräisch" (Thomas Lewy). Viele Beiträge benutzen den biografischen Ansatz, um das Schicksal der "Jeckes" zu illustrieren - anzutreffen sind u.a. der Maler Hermann Struck (Ruthi Ofek), der Schriftsteller Josef Kastein (Caroline Jessen), und der Dichter Paul Mühsam (Gernot Wolfram). Insgesamt ein buntes Mosaik.

Auffallend sind jedoch die Beiträge, die sich mit eher unerwarteten Aspekten des Kulturtransfers und Gedächtniskultur der "Jeckes" auseinandersetzen. In der israelischen Wahrnehmung repräsentieren die "Jeckes" das säkularisierte Judentum. Der Beitrag "Religiöse Erneuerung oder Austritt?" (Christian Kraft) lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf zwei aus Deutschland nach Palästina transferierte religiöse Traditionen - das Reformjudentum und die "Neue Orthodoxie". Die zwei wichtigsten Innovationen im Judentum als Religion entstanden in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Im amerikanischen Judentum ist die Reformgemeinde die größte Gemeinde. Der Aufsatz erklärt aber, wie und weshalb diese Strömungen in Israel nicht Fuß fassen konnten. Die alte - osteuropäische oder sephardische (d.h. orientalische) - Orthodoxie konnte sich als Alleinvertreterin der jüdischen Religion in Israel etablieren und die liberalen Strömungen verdrängen.

Auf einen weiteren gescheiterten Versuch, eine zentraleuropäische Tradition nach Palästina zu transplantieren - nämlich im politischen Bereich -, verweist die Herausgeberin in ihrem Aufsatz: "Zionistisch, sozialliberal, deutsch". Als die "Jeckes" ihre eigene Partei während des Zweiten Weltkriegs in Palästina gründeten (Alija Chadascha, zu 80 Prozent von "Jeckes" gewählt), versuchten sie aus der Erfahrung Zentraleuropas mit dem Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert zu lernen und den jüdischen Nationalismus, den Zionismus, in Richtung "Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas" (154) zu dirigieren. Wie beim Thema Religion, scheiterte dieser Versuch kläglich, und an Stelle eines Dialogs mit dem anderen Nationalismus, an Stelle des nach Innen gewandten "Moderatismus" (164) etablierte sich eine konsequent nationalistische und bellizistische Einstellung der israelischen Politik.

In der Rückschau auf die Hauptfiguren der aus Zentraleuropa kommenden Alija ragen meist Namen heraus wie Martin Buber, Arnold Zweig, Ernst Simon, Fritz Naphtali etc. Dass auch die deutsche Tradition der "Körperertüchtigung" und des Sports für viele "Jeckes" eine zentrale Rolle spielte und deswegen den Weg nach Palästina-Israel fand, ist weniger bekannt. Ofer Ashkenazis Aufsatz "Sport als Identitätspolitik bei den deutschsprachigen Einwanderern in Haifa" lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf diesen Aspekt, der die Nähe zwischen dem deutschen Nationalismus (Turnvater Jahn) und dem Zionismus (Max Nordaus "Muskeljudentum") veranschaulicht. In diesem Abschnitt des Kulturtransfers kam es paradoxerweise zum relativen Erfolg. Nur liegt die Ironie darin, dass diese Tradition weniger zum Erfolg des israelischen Sports beitragen konnte, viel mehr aber zur Verquickung von Sport und militärischer Haltung, also zur Verankerung der paramilitärischen Erziehung in Israel. Der Pädagoge Arthur Biram war ein wichtiger Verfechter der "Leibeserziehung" der israelischen Gesellschaft. Eben dieser Zugang zum Sport erleichterte wiederum "die Integration der deutschsprachigen Einwanderer und ihrer Weltanschauung in den Jischuw" (182).

Der Titel des Buches lässt kein Platz für Missverständnisse: Es geht um "Beispiele aus Haifa". Es geht auch um die Geschichte der "deutschen und zentraleuropäischen Juden in Palästina und Israel". Doch gerichtet ist dieses Buch nicht nur an Leser, die sich für die Stadt Haifa oder für die "Jeckes" interessieren, sondern an die, die etwas über das große Thema Kulturtransfer, Integration von Einwanderern und kollektive Identitäten im modernen Staat lernen wollen - ein aktuelles und akutes Thema.

Moshe Zimmermann