Rezension über:

Meik Woyke (Hg.): Willy Brandt - Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958-1992) (= Willy-Brandt-Dokumente; Bd. 3), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015, 1101 S., ISBN 978-3-8012-0445-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Judith Michel
Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Judith Michel: Rezension von: Meik Woyke (Hg.): Willy Brandt - Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958-1992), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/26257.html


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Meik Woyke (Hg.): Willy Brandt - Helmut Schmidt. Partner und Rivalen

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Über das spannungsvolle Verhältnis von Willy Brandt und Helmut Schmidt und ihren Einfluss auf die Entwicklung der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit wurde bereits einiges publiziert. [1] In der Edition ihrer gesamten wechselseitigen Korrespondenz kommen sie nun selbst zu Wort. 717 Briefe konnte der Herausgeber Meik Woyke, Leiter der Abteilung "Public History" der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bonn, für die Zeit von 1958 bis 1992 ermitteln. Die meisten Schreiben stammen aus dem Willy-Brandt-Archiv und dem Nachlass von Helmut Schmidt, die im Archiv der sozialen Demokratie der FES liegen, sowie aus dem Privatarchiv Schmidts in Hamburg-Langenhorn. Bei dem gemeinschaftlichen Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung handelt es sich nicht um eine historisch-kritische Edition. "Im Vordergrund stand vielmehr das Ziel, die Korrespondenz zwischen Brandt und Schmidt in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit ihren deutschlandpolitischen Aspekten und internationalen Horizonten einzuordnen und sie für heutige Leserinnen und Leser außerhalb der geschichtswissenschaftlichen Fachdebatte verständlich zu machen." (83-84) Dies gelingt dem Herausgeber durch seine aufschlussreiche Einleitung sowie die umfangreiche erklärende Kommentierung der Dokumente sehr gut, auch wenn einige der Schreiben so speziell sind, dass sie wohl dennoch ausschließlich für ein Fachpublikum von Interesse sein dürften. Querverweise in den Anmerkungen erschließen die in der Korrespondenz über längere Zeiträume behandelte Themenkomplexe. Verweise auf Sekundärliteratur dienen nicht nur als Beleg, sondern bieten auch Vertiefungsmöglichkeiten. Hilfreich für die schnelle Orientierung sind zudem 250 Kurzbiographien sowie ein Sach- und Personenregister im Anhang.

Unter den Briefen finden sich ausführliche Schreiben, die sich um politische und parteiprogrammatische Grundsatzfragen drehen, unpersönliche Amtskorrespondenz, persönliche Briefe und Glückwunschschreiben sowie handgeschriebene Zettelchen. Schmidt schrieb dabei nicht nur ausführlicher, sondern auch häufiger als Brandt, der generell eher knapp, aber gewissenhaft die angesprochenen Punkte beantwortete. Am lebhaftesten fiel die Korrespondenz während der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung von 1966 bis 1982 aus. In den Jahren davor und danach kam es häufiger zu längeren Pausen - ein Hinweis darauf, dass der Briefwechsel doch eher der politischen Arbeit denn einer persönlichen Beziehung der beiden Sozialdemokraten entsprang.

Die ersten Jahre der Korrespondenz waren überwiegend durch ein konstruktives Verhältnis geprägt, bei dem Schmidt sich oftmals um Brandts Wohlwollen bemühte. Ab 1969 begann Schmidt dann zunehmend gegenüber Bundeskanzler Brandt seine Ressortinteressen als Bundesminister zu vertreten, zugleich nahm er aber auch zu darüber hinausgehenden Politikbereichen Stellung. Nachdem Schmidt Brandt 1974 als Bundeskanzler abgelöst hatte, bezog er den weiterhin als Parteivorsitzenden amtierenden Brandt nur noch gelegentlich in die Entscheidungsfindung ein.

Uneinigkeit entstand insbesondere um den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik vorsah, sollte sich die Sowjetunion in Verhandlungen nicht bereiterklären, ihre auf Westeuropa gerichteten Mittelstreckensysteme abzurüsten. Interessant ist hier, mit welchem Unverständnis und welcher Unerbittlichkeit Schmidt sich gegen die sogenannte Friedensbewegung stellte. Am 16. September 1981 ersuchte er den Parteivorsitzenden, Erhard Eppler und andere Sozialdemokraten davon abzubringen, an einer Großdemonstration gegen die Nachrüstung in Bonn teilzunehmen: "Die mit der Sicherheit befassten Behörden rechnen mit mehreren zehntausend Demonstrationsteilnehmern, die zu diesem Zweck nach Bonn gekarrt werden. [...] Dabei ist nicht auszuschließen, dass Gruppen von Teilnehmern, die Emotionalisierung ausnutzend, u.a. einen 'Sturm auf die Hardthöhe' beabsichtigen. Es ist ausgeschlossen, für diesen Tag etwa den Posten, welche das Gelände der Hardthöhe sichern, die Waffen und Munition zu nehmen, damit Blutvergießen vermieden werde." (Dok. 614) Brandt lehnte es ab, SPD-Mitglieder hinsichtlich ihrer Teilnahme an der Demonstration zu beeinflussen und meinte: "Wenn es Erkenntnisse in bezug auf die Hardthöhe gibt, sollte man überlegen, sie zum Zwecke der Warnung zu veröffentlichen." (Dok. 615)

Dass es bei der Auseinandersetzung um die Nachrüstung nicht nur um verteidigungspolitische Aspekte, sondern um die Ausrichtung der Sozialdemokratie ging, kann man aus der Korrespondenz Ende 1982 ablesen: Nachdem Schmidt als Kanzler gestürzt worden war, beklagte dieser sich, der Parteivorsitzende habe ihn nicht hinreichend unterstützt (Dok. 650). Brandt erwiderte, er sei bis zuletzt auf Schmidts Seite geblieben, auch in Situationen, die "bis hart an die Grenze der Selbstachtung gingen" (Dok. 651). Schmidt gab daraufhin an, bis 1972 sei er "innerlich bedingungslos" für alle politischen Entscheidungen Brandts eingetreten. Danach habe die SPD sich jedoch zu sehr von ihrem Kernklientel entfernt: "Gleichzeitig begann aber die politische Disziplin unserer Partei nach außen sich aufzulösen, und ihr Profil begann, diffus zu werden." Es sei ein Fehler gewesen, sich den neuen sozialen Bewegungen zu sehr zu öffnen. (Dok. 652). Brandt beendete diesen Schlagabtausch über die Ausrichtung der SPD am 3. Dezember 1982 mit der Aufforderung, man solle sich auf ein "agree to disagree" verständigen (Dok. 653).

Die letzten Jahre des Schriftwechsels sind geprägt von Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit vergangener Ereignisse. Erst Ende der 1980er Jahre schlugen die Korrespondenzpartner wieder versöhnliche Töne an und würdigten die politische Lebensleistung des jeweils anderen. Am 17. Juni 1992 schrieb Schmidt in seinem letzten Brief an den todkranken Brandt: "Was auch immer in den letzten zwanzig Jahren uns bisweilen etwas voneinander entfernt hat, ich habe nie an Deiner überragenden Gesamtleistung für unser Volk gezweifelt. [...] Nimm deshalb diesen kleinen Brief als Zeichen der Freundschaft und der Solidarität zwischen Männern, die aus gleichen Gründen für die gleiche Sache gekämpft haben - und die sich heute insgeheim darüber freuen dürfen, daß sie im Vergleich zu Heutigen ihren Dienst nicht schlecht geleistet haben." (Dok. 717)

Neben diesem grundsätzlich respektvollen Blick aufeinander, offenbart die Korrespondenz die bereits bekannte Rivalität Brandts und Schmidts, die sowohl ihrer unterschiedlichen Sozialisation als auch ihrem unterschiedlichen Führungsstil und Politikverständnis entsprang. Daher drehten sich ihre Konflikte oft nicht nur um Sachfragen, sondern auch um den politischen Stil. So schrieb Brandt am 22. Dezember 1970: "Dein gutgemeinter, freundschaftlicher Rat, ich solle deutlicher sagen, wo die Reise lang geht, hilft auch nicht viel weiter. Erstens kann keiner von uns aus seiner Haut - aus seinem Stil - heraus. Zweitens liegt die Lösung der meisten unserer Probleme wirklich in 'kollektiven' Antworten." (Dok. 183)

Obwohl die Edition somit kein völlig neues Licht auf das Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Sozialdemokraten wirft, gibt es auch die ein oder andere Korrektur gängiger Narrative, die über die beiden vorherrschen. So geht aus einem Schreiben Schmidts vom Juni 1968 hervor, dass sich Außenminister Brandt für Waffenlieferungen an das unter Militärdiktatur stehende Griechenland einsetzte, während Schmidt und die SPD-Fraktion sich dagegen aussprachen (Dok. 87).

Insgesamt erlaubt die vorbildlich bearbeitete Edition einen spannenden Blick auf das Verhältnis Brandts und Schmidts sowie die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und der Bundesrepublik. Zugleich dokumentiert sie die Briefkultur als wichtigen Bestandteil des politischen Geschäfts der damaligen Zeit, wie sie heute kaum noch anzutreffen ist. Sie ist somit für historisch interessierte Leser wie für Fachhistoriker gleichermaßen eine lohnenswerte Lektüre.


Anmerkung:

[1] Vgl. insbesondere Gunter Hofmann: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft, München 2012.

Judith Michel